Des Teufels Alternative
Kopf. Beide Männer dachten das gleiche. Ihre Positionen bedingten, daß sie über Lessings wahre Aufgabe in der Botschaft unterrichtet waren. Der Arzt aber wußte davon nichts. Schließlich ergriff der Botschaftskanzler das Wort.
»Das ist leider nicht möglich«, sagte er höflich. »Nicht in diesem Fall. Lessing muß mit der Nachmittagsmaschine nach Helsinki geflogen werden. Können Sie dafür sorgen, daß er reisefähig ist?«
»Aber warum …«, begann der Arzt. Er brachte seinen Satz nicht zu Ende. Plötzlich war ihm klar, warum sie für dieses Gespräch drei Kilometer weit gefahren waren. Lessing mußte der Mann des Secret Intelligence Service in Moskau sein. »Nun ja … Er steht unter Schock und hat ungefähr einen halben Liter Blut verloren. Ich habe ihm hundert Milligramm Pethidin zur Beruhigung gegeben. Um drei Uhr nachmittags könnte er noch einmal eine Spritze bekommen. Wenn er zum Flughafen gefahren wird und jemand während des Fluges bei ihm ist, wird er wohl bis Helsinki durchhalten. Aber dort muß er sofort in ein Krankenhaus. Ich würde am liebsten selber mitfliegen, damit nichts schiefgeht. Ich könnte morgen zurückkommen.«
Der Botschaftskanzler stand auf. »Sehr gut!« meinte er entschieden. »Nehmen Sie ruhig noch einen Tag Urlaub dazu. Und meine Frau würde Ihnen gern eine kleine Einkaufsliste mitgeben, wenn Sie so freundlich wären. Ja? Vielen Dank, Doktor. Ich veranlasse alles Nötige von hier aus.«
In Zeitungen, Illustrierten und Büchern gilt seit Jahren ein bestimmtes Bürogebäude im Londoner Stadtteil Lambeth als Hauptquartier des britischen Secret Intelligence Service, auch SIS oder MI 6 genannt. Die Mitarbeiter der »Firma« amüsieren sich im stillen darüber, denn in Lambeth arbeitet nur eine tüchtige Tarnorganisation. Auf ähnliche Weise wird im Leconfield House in der Curzon Street, das noch immer als Hauptquartier der Spionageabwehr, der MI 5, gilt, eine Scheinorganisation am Leben erhalten, um ungebetene Besucher zu täuschen. In Wirklichkeit haben die Abwehragenten schon seit Jahren nicht mehr ihre Büros in der Nähe des Playboy Clubs.
Das eigentliche Hauptquartier des geheimsten Geheimdienstes der Welt ist ein modernes Bürogebäude aus Glas und Stahlbeton. Es wurde im Auftrag der Regierung ganz in der Nähe eines der südlichen Londoner Bahnhöfe errichtet und Anfang der siebziger Jahre bezogen.
Die Nachricht von Lessings Erkrankung erreichte den SIS-Generaldirektor nach dem Mittagessen in seinem geräumigen Arbeitszimmer in der obersten Etage, durch dessen getönte Scheiben man auf den Big Ben und die Parlamentsgebäude auf dem anderen Flußufer blickt. Am Haustelefon war der Personalchef, auf dessen Schreibtisch der Text aus der Entschlüsselungsabteilung gelandet war. Der Generaldirektor hörte aufmerksam zu.
»Wie lange ist er außer Gefecht?« fragte er schließlich.
»Sicher ein paar Monate«, antwortete der Personalchef. »Einige Wochen Krankenhausaufenthalt in Helsinki, dann eine Zeit bei sich zu Hause. Und anschließend wahrscheinlich noch drei bis vier Wochen Erholungsurlaub.«
»Sehr bedauerlich«, meinte der Generaldirektor. »Dann müssen wir ihn so schnell wie möglich ersetzen.«
Sein gutes Gedächtnis sagte ihm, daß Lessing zwei russische Agenten geführt hatte: niedrige Dienstgrade in der Roten Armee und beim sowjetischen Außenministerium – nichts Weltbewegendes, aber doch Nützliches.
»Benachrichtigen Sie mich, sobald Lessing in Helsinki sicher untergebracht ist. Und schlagen Sie mir bitte bis spätestens heute abend zwei bis drei Ersatzleute vor.«
Sir Nigel Irvine war der dritte Berufsagent, der zum Generaldirektor des SIS oder der »Firma«, wie sie in einschlägigen Kreisen heißt, aufgestiegen war.
Die weitaus größere amerikanische CIA, von Profis wie Allan Dulles aufgebaut und zum Gipfel des Erfolgs geführt, war infolge ihrer selbstherrlichen Machtausübung in den frühen siebziger Jahren schließlich der Kontrolle eines Außenstehenden, des Admirals Stanfield Turner, unterstellt worden. Eine Ironie des Schicksals wollte es, daß die britische Regierung sich zur gleichen Zeit endlich für das genaue Gegenteil entschlossen und mit der Tradition, die Firma von einem bewährten Mann aus dem Außenministerium leiten zu lassen, gebrochen hatte. Sie ernannte einen Profi zum SIS-Generaldirektor.
Das Risiko hatte sich gelohnt. Die Firma hatte lange unter den Nachwirkungen der Affären Burgess, MacLean und Philby gelitten, und Sir
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