Des Teufels Kardinal
passiert war.
Elena beobachtete sie noch einen Augenblick, dann sah sie zum Telefon hinüber. Pater Daniel war ihr Schutzbefohlener, hatte Edward Mooi gesagt. Das mochte stimmen, aber ihre Vernunft riet ihr, bei erster Gelegenheit zur Polizei zu gehen. Ob ihre Mutter Oberin wuß-
te, was gespielt wurde, machte keinen Unterschied. Es ging sie auch nichts an, was Pater Daniel getan oder nicht getan hatte. Darüber mußten die Gerichte entscheiden. Er wurde wegen Mordes gesucht, und sein Bruder ebenfalls. Dort drüben war die Polizei. Sie brauchte nur hinüberzugehen.
Das tat sie auch, indem sie sich von der Telefonzelle abwandte und die Straße überquerte. Als Elena den anderen Gehsteig erreichte, hörte sie laute Rufe aus der am Ufer versammelten Menge.
Weitere Neugierige hasteten an ihr vorbei, um mitzubekommen, was dort passierte.
»Da ist sie!« rief jemand in ihrer Nähe, und Elena sah, wie Polizeitaucher eine Leiche in der Nähe der Anlegestelle an die Wasseroberfläche brachten. Polizisten zogen sie auf den Steg und legten sie auf die Planken. Ein weiterer Uniformierter bedeckte sie hastig mit einer Wolldecke.
In diesem Augenblick jähen Entsetzens, in dem die neugierige Menge sich plötzlich mit dem Tod konfrontiert sah und schlagartig verstummte, erstarrte auch Elena Voso. Die Leiche aus dem See war die eines Mannes. Es war Luca Fanari.
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Harry beobachtete die Polizei und die Menschenmenge auf der anderen Straßenseite noch einen Augenblick, bevor er sich wieder auf den Fernseher in seinem Hotelzimmer konzentrierte. Adrianna, wie immer in Feldjacke und Baseballmütze, stand in strömendem Regen vor dem Sitz der Weltgesundheitsorganisation WHO in Genf. Nach bisher unbestätigten Berichten aus Hefei in Ostchina hatte es bei der dortigen Wasserversorgung eine schwere Betriebsstörung gegeben.
Tausende von Menschen sollten vergiftet und bereits über sechstau-send gestorben sein. Aber Xinhua, die Nachrichtenagentur Neues China und das staatliche Fernsehen bezeichneten diese Berichte als frei erfunden.
Als Harry den Ton abstellte, verstummte Adrianna plötzlich. Was hatte sie aus Genf über eine »frei erfundene« Story zu berichten?
Er sah unruhig nochmals aus dem Fenster, dann wieder auf den Radiowecker.
8.20 Uhr
Keine Anrufe, nichts. Was war mit Edward Mooi? Hatte er das Fax nicht noch mal gelesen? Und jetzt war Adrianna in Genf, statt hier in Bellagio. Harry fühlte sich im Stich gelassen, in einem kleinen Hotelzimmer gestrandet, während draußen der Lauf der Welt weiterging.
Er sah wieder aus dem Fenster. Direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite hielt ein Polizeifahrzeug. Die Türen öffneten sich, und drei Männer in Zivil stiegen aus und gingen zur Anlegestelle. Harry hatte das Gefühl, sein Herz setze einen Schlag aus. Der vordere Mann, der die beiden anderen anführte, war Otello Roscani.
Instinktiv wich er vom Fenster zurück. Im nächsten Augenblick wurde an seine Zimmertür geklopft. Harry erstarrte förmlich. Dann wurde nochmals angeklopft.
Er trat rasch ans Bett und holte den Notizzettel mit Edward Moois Telefonnummer aus seiner Reisetasche, zerriß ihn in kleine Schnit-zel, lief damit ins Bad und spülte sie im WC hinunter.
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Das Klopfen wiederholte sich, diesmal etwas leiser. Weit weniger energisch, als die Polizei angeklopft hätte. Das war natürlich Eaton… Harry atmete auf, ging zur Tür und öffnete sie.
Draußen stand eine junge Nonne.
»Pater Roe?«
Harry zögerte.
»Ich bin Schwester Elena Voso.« Sie sprach akzentgefärbtes, aber gut verständliches Englisch.
Er schaute sie unsicher an.
»Darf ich eintreten?«
Harry blickte an ihr vorbei den Flur entlang. Sie schien allein zu sein.
»Ja, natürlich.«
Harry trat zurück und beobachtete, wie sie sich umdrehte und die Tür hinter sich schloß.
»Sie haben Edward Mooi angerufen«, begann Elena vorsichtig.
Harry nickte.
»Ich bin gekommen, um Sie zu Ihrem Bruder zu bringen.«
Er blickte sie an. »Tut mir leid, aber das verstehe ich nicht.«
»Sie können ganz unbesorgt sein.« Elena spürte sein Mißtrauen, sah seine Unsicherheit. »Ich bin nicht bei der Polizei.«
»Tut mir leid, ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Wenn Sie das nicht wissen, brauchen Sie mir nur zu folgen…
Ich warte an der Treppe, die ins Dorf hinaufführt. Ihr Bruder ist krank. Bitte, Mr. Addison.«
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Harry ging mit Elena die Treppe hinunter und öffnete im Erdgeschoß die Tür, die vom Treppenhaus in einen
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