Des Teufels Kardinal
Überlebenden sollten gefragt werden, ob sie im Bus einen Mann mit einer Schußwaffe gesehen hatten. Danach war bisher nicht gefragt worden, weil niemand an diese Möglichkeit gedacht hatte und die meisten Überlebenden noch unter Einwirkung des erlittenen Schocks standen. Natürlich bestand die Möglichkeit, daß mit der Pistole ein Fahrgast erschossen worden war, wobei der Schalldämpfer verhindert hätte, daß die anderen etwas mitbekamen. Das hätte die kühne Tat eines Profikillers sein können. Richtig ausgeführt, hätte sie vermutlich Erfolg gehabt. Das scheinbar nur schlafende Opfer wäre erst nach der Ankunft des Busses entdeckt worden, wenn die übrigen Fahrgäste sich schon längst verlaufen hätten.
Diese Möglichkeit konnte als Rechtfertigung dafür dienen, alle nochmals sorgfältig unter die Lupe zu nehmen. Die Lebenden und die Toten. Sie würden mit den acht Überlebenden beginnen, von denen einige noch im Krankenhaus lagen, während andere schon nach Hause entlassen worden waren. War Pater Daniel nicht unter ihnen, wovon Pio überzeugt war, würden sie sich den Toten zuwen-den, um sie auf Schußwunden zu untersuchen, die wegen des Zustands der Leichen und des kleinen Kalibers der Waffe leicht übersehen worden sein konnten. So würden alle Toten noch einmal genau 87
untersucht werden, diesmal jedoch aus anderer Perspektive, weil sie bewußt auf Pater Daniel achten würden. Und falls seine Leiche auch dabei nicht gefunden wurde, lag der Schluß nahe, der mutmaßliche Mörder des Kardinalvikars von Rom befinde sich noch irgendwo unter den Lebenden.
Roscani würde den wahren Grund für die neuen Ermittlungen erfahren, aber nur er allein. Sonst würde niemand darüber informiert werden, nicht einmal Farel.
»Eines muß ich Ihnen allerdings ehrlich sagen, Mr. Addison.« Pio hielt an einer roten Ampel. »Irgendwann bekommt Farel heraus, was wir mit unseren Ermittlungen bezwecken. Unter Umständen stoppt er dann alles.«
»Weshalb?«
»Ich denke nur daran, was Kardinal Marsciano zu Ihnen gesagt hat.
Sollten die Ereignisse irgend etwas mit vatikanischer Politik zu tun haben, läßt Farel die Ermittlungen sofort einstellen. Der Fall gilt dann als abgeschlossen, und wir haben kein Recht, ihn weiterzuver-folgen. Der Vatikan ist ein souveräner Staat, kein Teil Italiens.
Wir haben den Auftrag, mit dem Heiligen Stuhl zusammenzuarbeiten und ihn nach Kräften zu unterstützen. Aber wenn uns niemand einlädt, dürfen wir uns nicht aufdrängen.«
»Und dann?«
Die Ampel zeigte Grün, und Pio fuhr wieder an. »Und dann nichts.
Es sei denn, Sie würden zu Farel gehen. Aber glauben Sie mir, von dem haben Sie keine Hilfe zu erwarten.«
Harry sah, wie Pio erneut in seinen Rückspiegel schaute. Das hatte er schon auf der Autostrada mehrmals getan, ohne daß Harry sich etwas dabei gedacht hatte. Aber jetzt waren sie in der Stadt, und dies war binnen weniger Minuten schon das dritte Mal.
»Irgendwas nicht in Ordnung?«
»Schwer zu sagen…«
Zwei Wagen hinter ihnen fuhr ein kleiner weißer Peugeot. Pio behielt ihn im Auge, seit sie die Via Salaria entlangfuhren. Jetzt bog er nach links auf die Via Chiana und dann rechts auf den Corso Trieste ab. Der Peugeot wechselte die Spur und blieb unbeirrbar hinter ihnen.
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Vor ihnen verlief eine Querstraße, die an einer kleinen Grünanlage vorbeiführte. Pio schaltete rasch herunter und bog rechts ab, ohne seinen Blinker zu setzen. Der Alfa nahm die Kurve mit ziemlicher Schräglage und quietschenden Reifen. Pio wurde sofort langsamer und behielt den Rückspiegel im Auge. Der Peugeot kam in Sicht, bog aber nicht ab, sondern fuhr geradeaus weiter.
»Sorry.« Pio gab wieder Gas. Sie fuhren durch ein ruhiges Viertel, das sich an den Park anschloß. Alte Gebäude, dazwischen einige Neubauten. Große Bäume, üppig grüne Büsche und überall blühender Oleander. Pio bog um die nächste Ecke und sah wieder in den Rückspiegel.
Der Peugeot!
Er kam eben aus einer Seitenstraße und beschleunigte auf sie zu.
Pio zog instinktiv seine 9-mm-Beretta aus der Halterung unter dem Instrumentenbrett und legte sie ins Ablagefach zwischen den Vordersitzen. Dann griff er nach dem Mikrofon seines Funkgeräts.
»Was ist los?« Angst durchzuckte Harry.
»Weiß ich nicht.« Pio sah in den Rückspiegel. Der Peugeot war dicht hinter ihnen. Seine Windschutzscheibe war dunkel getönt.
Pio konnte den Fahrer nicht sehen. Er schaltete blitzschnell herunter und trat das Gaspedal
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