Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
einer Formation wie dem Tross eines Heeres zu behaupten, und dass dies einem armen alten Krüppel noch viel weniger gelingen würde. Es wehte ein eisiger Wind, und davon hatte auch Kaspar bei seinem letzten Besuch berichtet.
Von Kaspar hingegen hatte Balthasar trotz mehrfacher Nachfrage Annas nichts mehr gehört. Er schien nicht mehr in Herrsching zu sein. Nachdem Anna dem Jungen aufgetragen hatte, sich intensiv über den Verbleib des Vermissten zu erkundigen, kam dieser eines Tages mit der Nachricht nach Hause, dass der lange Kaspar wohl im Elsass gestorben sei. Es habe, so Balthasars Bericht, eine Prügelei gegeben, und dabei hätte man den Kaspar erschlagen.
Anna war traurig, bestätigte dieser grausige Tod doch Kaspars eigene Aussage, dass Habgier und Gewalt nun auch innerhalb dieser Gemeinschaft die Oberhand gewonnen hatten. Nun war er selber ein Opfer der veränderten Zustände geworden, und somit gab es für Anna keinen Informanten im Tross, der ihr von dem Fortgang der Ereignisse berichten konnte, bei denen so viele Frauen auf immer die gleiche Art und Weise ihr Leben ließen. Sie musste also den alten Mergel in ihre Nachforschungen einweihen. Vielleicht hatte er in der Woche, in der er sich nun schon im Lager aufhielt, das eine oder andere aufgeschnappt. Balthasar hingegen wollte sie aus all dem heraushalten. War er doch noch ein Kind – allerdings nur in Annas Augen.
Der Tross lagerte nicht direkt in Herrsching, sondern verteilte sich wie immer im Umland. Es war November und bitterkalt, sodass die Menschen in ihren löchrigen Zelten und unter ihren modrigen Decken schrecklich froren. Brennholz gab es kaum noch, ja selbst die Bauernhäuser der umliegenden Dörfer gaben nicht mehr genug Möbel und Materialien her, die zum Anzünden und Wärmen geeignet gewesen wären.
Auch Anna hatte in den letzten Tagen immer wieder Besucher in ihrem Hause gehabt, die alles durchwühlten, um an überlebensnotwendige Dinge zu gelangen. Sie sah diese Plünderungen von ihrem Versteck aus mittlerweile mit Gelassenheit, denn es gab nichts mehr zu holen und nichts mehr zu zerstören.
Ähnlich gleichgültig gegenüber etwaigen unangenehmen Begegnungen schritt sie nun auch durch das Quartier des kaiserlichen Trosses und suchte ihren Freund Mergel.
Jetzt, wo sie ungeniert einherging und ihren Blick ohne Scheu schweifen ließ, erkannte sie tatsächlich in vielen der sich durch Hunger und Darben veränderten Gesichter den einen oder anderen wieder, mit dem sie oder auch Liese in ihren westfälischen Tagen zu tun gehabt hatte.
Da war zum Beispiel die dürre Ursula Schmeichel, Lieses Feindin, welche immer ihr Haar kurz trug, um Männer und Läuse von sich fernzuhalten. Sie sah aus wie eh und je. Konnte man doch auch nicht dünner und faltiger werden, dachte Anna bei sich. Zum Glück war das geschwätzige Frauenzimmer in ein Gespräch mit zwei weiteren Frauen vertieft und beachtete Anna nicht, als sie an ihr vorüberging.
Sie sah auch Johann schlick wieder, und das war ein Anblick, der ihr Gänsehaut verschaffte. Er und seine Helfer hatten Liese und Anna in jenen Tagen aufgegriffen, als sie gerade die tote alte Frau verschwinden lassen wollten. Von diesem wollte Anna nicht erkannt werden. Sie wurde es auch nicht, denn er hatte genug damit zu tun, einen jungen Burschen niederzubrüllen, der bereits am Boden lag und aus dessen weit geöffneten Augen abzulesen war, dass er sich vor den berüchtigten Schlägen und Tritten des Unholdes nicht nur fürchtete, sondern auch wusste, dass sie ihm unausweichlich in den nächsten Minuten zuteilwerden würden.
Und dann erblickte Anna den Pastor Bracht. Auch er hatte sich nicht merklich verändert. Lediglich die Haare waren ein wenig lichter geworden, doch seine große, schlanke Gestalt und die ihm eigene Körperhaltung waren schon von Weitem unverkennbar. Auch für ihn blieb Anna zunächst unsichtbar, sprach er doch soeben predigend auf eine junge Frau ein, die ihrer Kleidung nach ohne Zweifel zu den leichteren Mädchen der Trossgemeinschaft zählte.
Ihn könnte Anna um Hilfe bitten. Doch wie sollte sie es anstellen? Sollte sie, nach allem, was vorgefallen war, einfach auf ihn zugehen? Wie würde er reagieren? Anna schwankte, sie traute sich nicht. Doch die Entscheidung wurde ihr unmittelbar abgenommen, denn ehe sie sich’s versah, kam er schon lächelnd auf sie zu.
»Anna Pippel, da seid Ihr tatsächlich. Erst unlängst erfuhr ich durch den jüngst verstorbenen Kaspar Niggemann, dass Ihr
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