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Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)

Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)

Titel: Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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Innere des Planwagens, um sich dort auf die schnelle als Destillateur zu üben.
    Es wurde schrecklicher, als Anna befürchtet hatte. Der Abend nahm und nahm kein Ende, ganz im Gegenteil: Je später es wurde, desto mehr Betrunkene fanden ihren Weg zu Lieses schenke. Die stimmung wurde immer ausgelassener und die Lieder immer schmutziger. Doch das hinderte Hans Mergel nicht daran, das Gegröle der Gäste in einer nahezu teilnahmslosen Unermüdlichkeit auf seiner Geige zu begleiten.
    Ganz so teilnahmslos war Anna nicht, konnte sie gar nicht sein, denn es galt, sich mit Händen und Füßen gegen die Hände und die Füße der aufdringlichen Kundschaft zu wehren. Denn während Liese von einer unerklärlichen Aura rundum respektierter Unantastbarkeit umgeben war, so war dies Anna leider nicht zu eigen, und das machte die Kellnerei für sie zu einer kaum zu ertragenden Prozedur. Nicht nur, dass die Kerle ihre Finger nicht bei sich behalten konnten und sie und ihre losen Weiber kaum Anstalten machten, die Zeche zu bezahlen – nein, sie wurden auch derb in ihren Beschimpfungen der armen Anna gegenüber, wenn sich diese vor ihnen zierte und stattdessen auf das versoffene Geld bestand.
    Liese schien das alles nicht zu stören. Sie kannte einen jeden von ihnen, und auch wenn es dem einen oder anderen gelang, als Zechpreller von dannen zu ziehen, summierte sich in Lieses Gedächtnis akribisch Posten für Posten, und es war jedem hier Anwesenden sonnenklar, dass keine Woche verstreichen würde, bis sie die gesamte schuld auf Heller und Pfennig wieder eingetrieben hatte.
    Leider hatte Anna keine solch selbstbewusste Natur, und das führte dazu, dass sie schon kurz nach Mitternacht vollkommen mit ihrer Kraft am Ende war. Nicht häufig hatte sie in ihrem Leben weinen müssen; eigentlich konnte sie sich an keine einzige Situation zurückerinnern, in der ihr vor Rührung, Trauer, Erschöpfung, Wut oder schmerz je Tränen über die Wangen geflossen waren. Doch an diesem Abend lief sie plötzlich heulend auf und davon.
    Wenige Schritte abseits des Lagers blieb sie stehen und setzte sich erschöpft an den Wegesrand. Alles war so neu für sie, und nichts von dem, was sie in der letzten Zeit erfahren hatte, hätte sie sich jemals in ihren kühnsten Vorstellungen ausmalen können. Sicherlich hatte sie schon viel schrecklicheres ertragen müssen als einen Abend inmitten von Trunkenbolden, doch immer war alles vorhersehbar und ein Teil ihrer täglichen Routine gewesen. Starb ein Mensch, den sie liebte – so wie ihr älterer Bruder, der als siebenjähriger Junge vor ihren Augen im see ertrunken war -, dann gab es trotz des schmerzenden Verlustes vorgegebene Pflichten, die es zu erfüllen galt und die Halt und schutz boten. Der Verstorbene wurde im Haus aufgebahrt, man hielt Totenwache und beerdigte ihn dann am dritten Tag. Auch wenn während des Krieges Marodeure einfielen und alles verwüsteten, dann baute man die Häuser wieder auf und lebte wie zuvor. Und schlug einmal der Blitz in den Kirchturm ein und brannte ihn nieder, dann war der schrecken der Dorfbewohner groß, doch es dauerte nicht lange, und man hatte ihn gemeinsam neu errichtet. All das kostete Mühe, Überwindung und hinterließ mitunter Narben an seele und Körper, aber es geschah unter Einhaltung vertrauter Regeln, die sie von Kindesbeinen an gelernt hatte.
    Das Lagerleben jedoch war anders. Hier gab es sicherlich Halt und auch sicherheit, man konnte Freundschaften schlie ßen und sogar eine Familie gründen, doch all das folgte einem eigenen Gesetz, und dieses Gesetz war Anna fremd. Es war eine Form von Freiheit, die sie bisher nie erlebt hatte und von der sie nicht sicher war, ob sie sie überhaupt kennenlernen mochte. Eine Frau wie Liese, die stark und selbstbewusst war, konnte in einer solchen Gesellschaft wunderbar überleben, ja bestimmt sogar besser als im gewöhnlichen Leben. Aber ein Angstha-se wie Anna, die es gewohnt war, sich nur wenige Schritte aus ihrem Bau herauszuwagen – ein solcher Mensch hatte es hier schwer, denn Rückzugsmöglichkeiten gab es nicht. Das Lagerleben war eine seltsame Kombination aus Miteinander und Gegeneinander, und genau dazu fühlte sich Anna zu schwach.
    Ihr Widerwille gegen dieses Leben war plötzlich derartig groß, dass sie keinerlei Angst mehr davor verspürte, sich wieder ganz allein in den Wald zu begeben. Nie mehr würde sie zu Liese und deren Kameraden zurückkehren, das schwor sie sich, als sie dort weinend im Gras saß. Doch

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