Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
nur warme Gedanken. Und von denen hatte sie – ob sie nun wollte oder nicht – mehr als genug.
X
Den folgenden Tag beschloss Anna allein zu verbringen. Am liebsten wäre es ihr gewesen, keiner Menschenseele zu begegnen und einfach schweigend ihre Arbeit zu verrichten. Schon früh machte sie sich mit dem Handkarren auf, um Holz sammeln zu gehen. Damit sie jedoch die Einsamkeit der Wiesen und Wälder erreichte und gleichzeitig einen Bogen um die Dörfer machen konnte, musste sie zunächst ihren Weg durch das gesamte Lager antreten.
Ihren Blick fest auf den Boden geheftet, zog sie den Wagen eilig über die schlammige Straße, an deren Rändern sich die Zelte und Ochsengespanne aneinanderreihten. Leise zählte sie wieder vor sich hin und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ihr ein bestimmter Mann auf gar keinen Fall begegnete. Sie hatte nach etwa einer halben Stunde das Ende des Lagers erreicht und wollte gerade aufatmen, weil sie bereits die in grauen Nebel gehüllten Felder vor sich sah, da hörte sie plötzlich eine dunkle, strenge stimme hinter sich:
»Anna Pippel, Anna Pippel!«
Als sie sich umschaute, sah sie den Pastor Bracht in langen und würdevollen Schritten auf sich zukommen. Er schien es sichtlich zu genießen, dass ihr seine Erscheinung Respekt einflößte, und diesen Eindruck versuchte er durch eine aufrechte Körperhaltung und eine erhabene Mimik bewusst zu verstärken. Doch dann geschah etwas, was dieses Gesamtbild jäh er-schütterte, ja sogar zum Wanken und schließlich zum Fallen brachte. Pastor Bracht musste sich für den Bruchteil einer Sekunde zu sehr darauf konzentriert haben, seine römische Nase und sein markantes Kinn in die ausdrucksvollste Position zu bringen, denn er übersah den großen Haufen durchweichter Pferdeäpfel, in die er trat und auf denen er ins Rutschen kam. Wild ruderte er mit den Armen und versuchte sich dann auch noch verzweifelt an einer Wäscheleine festzuhalten. Doch sämtliche Bemühungen, das Gleichgewicht und die Würde zu behalten, schlugen fehl, denn der Geistliche landete bäuchlings im Schlamm. Seine Rutschpartie endete direkt vor Annas Füßen.
Diese war zunächst sprachlos vor Schreck, doch dann musste sie ob dieser belustigenden Szene doch lauthals lachen. Der Pastor hatte sich derweil in Windeseile aufgerichtet und war wortlos davongestürzt, nachdem er sich nach allen Seiten umgeschaut und versichert hatte, dass bei diesem unangenehmen Spektakel außer Anna Pippel niemand zugegen gewesen war.
Anna schämte sich ein wenig, weil sie hatte lachen müssen, und sie schämte sich auch für den Pastor. Doch andererseits war sie froh, dass sie somit ein lästiges Gespräch vermieden hatte. sich immer wieder den Sturz des Pastors vor Augen rufend, machte sie sich mit einem Lächeln auf den Lippen auf den weiteren Weg.
Sie ging absichtlich weiter, als es nötig gewesen wäre, um Brennholz zu finden. Ihre Füße trugen sie stundenlang über kleine und größere Pfade, durch Birkenhaine und an Bachläufen vorbei, bis sie schließlich wieder einen größeren Weg erreichte. Sie ging, ohne zu wissen, wohin, immer weiter und weiter. Die sonne, die sich hinter einem dichten Shleier grauer Wolken versteckt hielt, stand bereits im Westen, als Anna endlich beschloss, einen Wald anzusteuern, um die von ihr geplante Arbeit zu verrichten.
Bisher war sie keiner Menschenseele begegnet, doch nun erkannte sie am Horizont auf dem Kamm eines Hügels eine weiße Gestalt. Wie ein Engel bewegte, nein: schwebte sie dort entlang. Anna gefiel diese Vorstellung, und es missfiel ihr, als sie beim Näherkommen entdecken musste, dass es sich nicht um eine Himmelserscheinung, sondern um eine – wohl mangels anderer Möglichkeiten – in ein weißes Laken gehüllte alte Bauersfrau handelte. Fröhlich sang sie trotz des nahenden Winters ein Frühlingslied und ließ es sich nicht nehmen, ein Gespräch mit Anna zu beginnen.
»Dat wird nen Winter, dat seh ich schon kommen.«
»Ja, es wird kalt werden«, antwortete Anna.
»Muss zum alten Müller, der liecht krank, wohnt dahinten auf dem Berch, ganz allein, die Frau ist schon lange doot. Gibt mir immer nen bisken Geld dafür, dass ich en wasche.«
»Ach so, das ist schön.«
»Nee, schön is dat nich. Der is nen ganz schönes Fickel auf seine alten Tage, dat sach ich dir. Der kann seine Finger nich bei sich behalten, und ich bin doch auch schon welk. Macht dem nix aus, der is ne sau. Dat sach ich dir.«
»Ja, ich verstehe.« Anna
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