Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
lächelte verlegen.
»Nu, dann geh ich ma weiter, dat ich nich zu speet nach Hause komme. Bist du vom Kriegsvolk?«
»Nein«, log Anna.
»Na, denn is ja juut. Soll sich hier mal wieder inner Gegend rumtreiben, dat Pack.«
»Einen schönen Tag wünsche ich«, verabschiedete sich Anna.
»Ja, ja, dir auch, dir auch«, sprach die Alte und sang weiter.
Kurz nach der Begegnung kam Anna an einem dreieckigen Galgen vorbei, an dessen einer Strebe noch immer die Überreste eines Gehenkten baumelten. Anna erschrak zunächst, doch dann setzte sie ihren Marsch fort. Das war kein ungewöhnlicher Anblick – nichts weiter als ein Dieb, der seine gerechte Strafe erhalten hatte.
Sie selbst hatte einmal einer Hinrichtung auf dem Galgenberg in Höxter beigewohnt, es war Markttag gewesen und sie ein Kind. Ihr Vater hatte sie auf dem Rückweg mit zu dem Ereignis genommen, es hatte ihn interessiert, und das kleine Mädchen fand es ebenfalls spannend zuzuschauen. Sie hatte auf den Schultern ihres Vaters sitzen dürfen und den letzten Minuten eines wiederholten Pferdediebes zuschauen können. Es war durchaus üblich, dass solche Übeltäter nach ihrem Ableben noch monatelang an Ort und stelle verblieben, als Mahnung für alle die, die je in Versuchung geraten sollten, ihre straftaten nachzuahmen. Dieser hier, der bereits hundert Schritte hinter Anna hing, schien bereits seit mehr als einem Jahr dort zu baumeln. Er bestand nur noch aus gelben Knochen und alten Stofffetzen. Doch er bekümmerte Anna bereits nicht mehr. sie dachte schon seit einiger Zeit an den unbekannten, blonden Edelmann, und bei dem Gedanken an ihn wurde ihr abwechselnd heiß und kalt.
So wie er hatte sie noch kein Mann angeschaut. Nicht einmal ihr Friedrich. Irgendetwas war in seinem Blick gewesen, etwas Warmes und Ehrliches. Auch wenn er sonst – und da machte Anna sich nichts vor – ein Luftikus zu sein schien. Still und heimlich, ohne es sich selbst einzugestehen, wünschte sie sich, ihn wiederzusehen, andererseits jedoch würde sie alles daran-setzen, einer Begegnung mit ihm aus dem Wege zu gehen. Was hatte er nur damit gemeint: ›Auf bald‹? Anna wusste es nicht und schüttelte vor Scham immer wieder den Kopf, um all ihre sich gegen ihren Willen einschleichenden Fantasien zu vertreiben. So ging sie nun, an den kecken Reitersmann denkend, wieder weiter und weiter und merkte nicht einmal, dass es bereits spät am Nachmittag war.
Die Hand, die sich von hinten auf ihren Mund legte, kam so plötzlich, dass Anna nicht einmal mehr die Zeit blieb zu schreien. Mit einer ungeheuren Kraft wurde sie in den Wald gezogen, immer tiefer und tiefer. Eine Binde legte sich um ihre Augen, und ein Knebel wurde in ihren Mund gesteckt, dann band man ihre Hände und ihre Füße, setzte sie an einen Baum und fesselte sie an den Stamm. Schließlich wurde eine furchtbar stinkende Decke um sie gewickelt. Und so saß sie da, nicht wissend, was da mit ihr geschah.
Es dauerte, bis sie wieder richtig zu sich kam und so richtig begreifen konnte, was da innerhalb weniger Minuten passiert war. Sie konnte sich nur noch auf ihren Hörsinn konzentrieren, alle anderen Möglichkeiten, ihre Umwelt wahrzunehmen, waren ausgeschaltet. Selbst der Geruchssinn war durch den bestialischen Gestank der Decke, die sie wenigstens vor der Kälte schützte, blockiert. Anna war sich nicht sicher, ob sie wieder allein war, sie konnte zumindest keine verdächtigen Geräusche in ihrer nahen Umgebung vernehmen. Kein Rascheln, kein Atmen, nur die üblichen Laute des Waldes bei Anbruch eines Novemberabends. Es fiel Anna schwer, durch die Nase zu atmen, weil zum einen der Knebel ihre Oberlippe so sehr nach oben gestülpt hatte, dass sie nun die Nasenlöcher verdeckte, und weil sie zum anderen bereits seit Wochen einen lästigen schnupfen hatte, der auch von innen alles verstopfte. Deshalb war es zum Überleben zunächst wichtig, dass sie sich beruhigte und versuchte, so viel Luft wie möglich einzuatmen, langsam und gleichmäßig. Es dauerte eine Zeit, bis es ihr gelang.
Danach machte sie sich an den Versuch, ihre Füße zu befreien, doch die Fesseln waren zu stramm. Auch die Hände blieben trotz großer Kraftanstrengungen fest umknotet. Sosehr sie sich auch wand und die Seile an der Rinde des Baumes rieb, es löste sich nichts. Keinen Daumenbreit mehr Bewegungsfreiheit, nicht einmal eine bequemere Sitzposition konnte sie erreichen. Nach einer stunde gab sie auf und verfiel in einen halb-schlafähnlichen Zustand,
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