Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
machte, musste sie nachahmen, was er hatte, musste auch sie haben. Das war der wesentlichste Charakterzug, der Balthasar von seiner gleichaltrigen Schwester in Erinnerung geblieben war.
Der Vater war sehr streng mit seinen Kindern. Dennoch brachte er von seinen Reisen immer etwas mit, sodass sie reichlich zu spielen und auch zu naschen hatten. Die Mutter war das liebste Geschöpf auf Erden, so lieb, dass der jüngste Sohn sie immer wieder umarmen und küssen musste, den ganzen Tag, wann immer er sie sah.
Und die Großmutter konnte zum einen die köstlichsten Karamellbonbons der Welt machen und zum anderen die spannendsten Geschichten erzählen. Manchmal, so erinnerte er sich, waren sie so spannend, dass Balthasar nicht schlafen konnte und des Nachts zu seinen Eltern lief. Am nächsten Morgen hörte er dann den Vater mit der Großmutter schimpfen. Aber das machte ihr nichts aus, sie erzählte trotzdem ihre Gruselmärchen, und das erfreute und erschreckte die Kinderherzen zugleich.
Es waren wunderschöne sechs Jahre, die der kleine Balthasar in Heidelberg verbrachte – so schön, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass solch unheimliche Geschichten, wie die Großmutter sie erzählte, grausige Wahrheit werden könnten.
Im sommer 1622 – bei diesem Datum half Hans Mergel dem Jungen – begannen feindliche Truppen die Stadt zu belagern. Der Kurfürst lag im Krieg mit dem Kaiser, und dafür mussten nun die Untertanen büßen. Elf Wochen kam niemand aus Heidelberg heraus, und niemand kam herein. Balthasar bemerkte von der Belagerung nicht viel. Anders als viele andere verfügte seine Familie über einen reichen Vorrat an Nahrungsmitteln, sodass sie die Zeit ohne Hunger und Durst und auch, ohne sich mit schlimmen seuchen zu infizieren, hinter sich bringen konnten. Im september – auch diese Zeitangabe fügte Hans Mergel ein – konnten die Angreifer die Verteidigungsanlage überwinden und begannen die stadt zu stürmen.
Drei Tage und drei Nächte wüteten die ligistischen Soldaten in der stadt. Das Haus des Blumenhändlers wurde gleich in den ersten Stunden der Erstürmung eingenommen. Balthasar hatte sich zusammen mit Marianne auf dem Dachboden in einer Wäschetruhe versteckt. Doch dort wurden sie nach kurzer Zeit gefunden. Ein nach schnaps stinkender Mann zog die Kinder an den Ohren die Treppe hinunter und band sie Rücken an Rücken auf zwei Stühlen fest. Wie es dem Rest der Familie erging, daran konnte Balthasar sich nicht mehr erinnern. Er hatte damals zu sehr und zu laut weinen müssen, als dass er noch irgendetwas von dem hätte wahrnehmen können, was um ihn herum geschah.
Als das Haus schließlich brannte, wurden die Kinder von zwei Soldaten losgebunden und hinausgeschleppt. Während der eine Soldat mit Marianne auf dem Arm die straße hinunterrannte, lief der andere mit Balthasar die Straße hinauf. Man brachte ihn in ein großes Haus, ein Spital oder Armenhaus, und setzte ihn dort in einen Keller. In diesem Keller waren bereits mehrere andere Kinder festgebunden und wurden von einem dicken Glatzkopf bewacht, der von dem Soldaten, der Balthasar hergebracht hatte, einen silbernen Kerzenständer erhielt, welchen er auf einen Berg mit anderen Diebesgütern warf. Dann ging der Soldat wieder fort.
Balthasar erkannte unter den anderen Kindern den kleinen Theodor, den Sohn eines Freundes seines Vaters. Theodor war zwar kleiner, aber dennoch viel älter als Balthasar; genauso alt wie Gregor, über den er sich ständig lustig machte, wenn er mit seinem Vater zu Besuch kam. Aus diesem Grund mochte Balthasar den kleinen Wicht mit dem großen Mundwerk überhaupt nicht leiden, doch jetzt war er froh, ein bekanntes Gesicht zu sehen.
Theodor erzählte ihm sogleich, dass die Kinder in diesem Keller – es waren etwa zwölf, und stündlich kamen mindestens vier neue hinzu – Geiseln seien. Die Soldaten sammelten die Sprösslinge reicher Eltern ein, um sie später gegen Lösegeld wieder herzugeben. Er, Theodor, habe keine Bedenken, bald freigekauft zu werden, da sein Vater ja reich sei. Balthasar hingegen müsse darum bangen, wieder zurückzukommen, denn sein Vater, das wüsste er genau, habe schon lange nicht mehr so viel Geld, wie er vorgäbe zu besitzen. Der sei ruiniert, seitdem der Kurfürst nach Prag gezogen sei, um dort als König zu regieren.
Diese Worte bereiteten Balthasar Angst, und sie schienen sich zu bewahrheiten, denn während einige der Kinder, unter anderem auch Theodor, tatsächlich ausgelöst
Weitere Kostenlose Bücher