Des Todes Liebste Beute
verbleibenden Personen auf ihrer Liste zu erreichen gestaltete sich als schwierig. Einige waren umgezogen, andere schlichtweg verschwunden.
Spinelli kam mit grimmigem Gesicht auf sie zu. »Ich wollte nur warten, bis Sie aufgelegt haben.«
»Warum? Was ist passiert?«
Er reichte ihr die Liste, die sie ihm am Morgen gegeben hatte. Einer der Namen war rot eingekreist. »Gerald Simpson ist heute Morgen nicht bei Gericht erschienen.«
Kristen schürzte die Lippen. Simpson war ein engagierter Verteidiger, der glaubte, dass jeder Angeklagte rehabilitiert werden konnte und Staatsanwälte rachsüchtige, machthungrige Menschen waren, die möglichst viele Verurteilungen erwirken wollten, um die Karriereleiter schneller hinaufzukommen. Er war ein großartiger Verteidiger, zeigte aber wenig Mitleid mit den Opfern. »Wenn wir also immer noch davon ausgehen, dass die Rache mit Hillman zu tun hat, können wir die Suche jetzt enorm einschränken. Ich war in Hillmans Gerichtssaal nur sechs Mal mit Simpson zusammen. Sollen wir die ehemaligen Angeklagten unter Beobachtung stellen?«
»Schon angeordnet. Nach Simpsons Wagen wird auch schon gefahndet. Ich fahre jetzt los und befrage die Ehefrau, da Mia und Abe noch nicht zurück sind. Vielleicht weiß Mrs. Simpson ja etwas.« Aber seine Miene verriet, dass er nicht daran glaubte.
»Ich rufe die sechs Opfer an.«
Spinelli fuhr sich frustriert durchs Haar. »Schon was über Paul Worth herausgefunden?«
»Es wird nachgeprüft. Ich werde angerufen, wenn sie was gefunden haben.«
Donnerstag, 26. Februar, 14.30 Uhr
In der Gemeinde lebten keine Barnetts mehr, aber Vater Delaney hatte ihnen die Namen der ältesten Mitglieder gegeben. Viola Keene war in der Sacred Heart getauft worden. Aber die lange Zugehörigkeit zur Gemeinde hatte sie nicht zu einem freundlicheren Menschen gemacht. »Sicher kann ich mich noch an die Barnetts erinnern. Warum wollen Sie das wissen?« Viola Keene sah finster auf ihre Füße. »Ich habe hier gerade gewischt. Streifen Sie draußen den Schnee ab.«
»Tut uns Leid, Ma’am.« Abe versuchte aufrichtig, seine Schuhe zu säubern, und Mia tat es ihm nach. »Es ist ziemlich matschig draußen.«
»Vielleicht taut es ja endlich mal«, sagte die Frau missgelaunt. Sie war noch gar nicht so alt, dachte Abe, nicht einmal sechzig, aber durch die herabgezogenen Mundwinkel wirkte sie älter. Die strenge Frisur und die schwarzen Kleider verstärkten den Eindruck noch.
»Das kann man nur hoffen«, murmelte Mia, und Abe musste ein Grinsen unterdrücken.
»Also, was wollen Sie hier?«, fragte Keene. »Ich habe zu tun.«
Sie war Besitzerin eines kleinen Hutgeschäfts, aber anscheinend bestand keine Gefahr, dass sie sich überarbeitete. Die dicke Staubschicht auf den Hüten verwies darauf, dass sie ewig keine Kunden gehabt hatte. Woran das wohl liegen mochte?
»Die Barnetts«, sagte Abe. »Wie gut kannten Sie sie?«
»Ich bin mit Iris Anne in die Schule gegangen. Dummes Ding.«
Sie näherten sich der langen Theke, an der Miss Keene sich über etwas beugte, das wie eine große Schleife aussah. »Und wieso war sie das, Ma’am?«, hakte Mia nach.
»Hat dauernd nach den Jungs geguckt und so. Lernen war nicht ihr Ding. Aber ihr Bruder, also der war anders.«
Mia beugte sich vor, um in das Gesicht der Frau zu sehen. »Welcher Bruder, Miss Keene?«
Sie schaute brüskiert auf. »Der ältere natürlich. Robert hat immer viel gepaukt. Und seinem Vater auch noch im Laden geholfen, wie es sich für einen guten Sohn gehört.« Ihr Gesicht wurde weicher, und sie sah plötzlich zehn Jahre jünger aus. »Er hat sich so gut um Iris und den anderen gekümmert.« Sie runzelte wieder die Stirn. »Der jüngere …« Angestrengt dachte sie nach. »Colin. Der taugte nichts. Hatte ständig Ärger. Legte sich mit den anderen Kindern an.« Sie schniefte. »Aber er hat seinen Teil gekriegt.«
Mia warf Abe aus dem Augenwinkel einen Blick zu. »Was meinen Sie damit?«
»Einmal hat er sich den Falschen ausgesucht.« Keene nahm die Schleife und nestelte am Band herum. »Der andere schlug ihn so zusammen, dass er ins Krankenhaus musste. Das war ein ziemliches Ereignis in unserem Viertel.«
»Und was geschah dann?«
»Colin ist gestorben.«
Mia blinzelte. »Wow. Das war ein ziemliches Ereignis im Viertel, was?«
Keene bauschte die Schleife auf. »Der andere hatte ein Messer im Stiefel. Das hatte Colin nicht gewusst.«
Abe verbarg sein Staunen über die Emotionslosigkeit, mit der die alte
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