Des Todes Liebste Beute
Wangen in seinen Wagen gestiegen war. Sie war mit ihren hohen Absätzen so schnell die Treppe vom Gericht hinuntergerannt, dass er fest mit einem Sturz gerechnet hatte. Die ersten zwanzig Minuten ihrer Fahrt hatte sie sich ständig umgeblickt, bis er ihr versicherte, dass Zoe Richardson ihnen zwar gefolgt war, er sie aber schon vor ein paar Meilen abgehängt hatte.
Nun saß sie reglos auf ihrem Sitz und starrte hinaus in die ruhige Gegend, in der das erste von Ross Kings Opfern zu Hause war.
»Schon okay«, sagte er. »Ich habe die Zeit genutzt, um ein paar Anrufe zu machen.«
Weitere dreißig Sekunden verstrichen, bevor sie murmelnd fragte: »Gibt es was Neues?«
»Jack hat getrocknete Milch im Inneren einer Kiste gefunden. Zwei Prozent Fett.«
Sie sah unverwandt hinaus. »Erwartet man nicht, in einer Milchkiste Milch zu finden?«
»Nur, wenn sie bis vor kurzem noch für Milchlieferungen benutzt worden ist.«
»Das heißt also, dass er Kontakt zu einer Person oder einem Geschäft haben muss, das Milch in Kisten angeliefert bekommt?«
»Falls er sich nicht mal irgendwann welche besorgt hat, um seine CD s darin zu stapeln, ja.«
»Aber er kann sie überall mitgenommen haben.«
Abe zuckte die Achseln, ein wenig verärgert über ihren Mangel an Enthusiasmus. Irgendetwas war heute Morgen geschehen, aber sie schien keine Absicht zu haben, es ihm geradeheraus zu sagen. »Vielleicht. Trotzdem ist es ein weiteres Puzzleteil. Jack hat außerdem Marmorstaub auf dem Boden der Kisten gefunden, was aber nicht weiter überrascht, da der Mörder Marmorkacheln auf den Boden gelegt hat.«
Er parkte den Wagen am Straßenrand vor ihrer ersten Adresse.
»Vielleicht erzählen Sie mir einfach, was los ist«, sagte er scharf. »Haben Sie noch einen Brief bekommen?«
Ihr Kopf fuhr herum, der Blick aus den grünen Augen wild und stürmisch. »Das hätte ich Ihnen schon gesagt, Detective. Ich bin nicht dumm.«
Er hätte sie gerne beruhigt, berührt, aber natürlich tat er es nicht. »Was dann?«
Sie seufzte. »Ich hatte heute Morgen einen neuen Vergewaltigungsfall. Das Opfer und der Vater warteten vor meinem Büro, als ich von der Anhörung zurückkam.«
Das erklärte ihre angespannte Stimme, als sie ihn über Handy angerufen und um eine weitere halbe Stunde gebeten hatte. Schweigend wartete er, dass sie fortfuhr.
»Das Mädchen ist in meinem Büro zusammengebrochen, weil sie so Angst vor der Aussage hat. Ihr Vater hat auf sie eingeredet, ihr fast sogar gedroht. Er sagte, er würde nicht eher Ruhe geben, bis der Mistkerl hinter Schloss und Riegel wäre.«
»Sie ist als Zeugin nicht gerade glaubwürdig, wenn die Jury glaubt, sie sei gezwungen worden.«
Sie blickte zum Haus. »Leider nein, obwohl ich sicher bin, dass sie die Wahrheit sagt. Dummerweise sind die Beweise nicht sehr aussagekräftig. Ich muss entscheiden, ob wir genug haben, um den Mann, den sie beschuldigt, vor Gericht zu bringen.«
»Und falls Sie das tun, muss sie eine Aussage machen.« Er folgte ihrem Blick. »Wie die Jungen im King-Fall.«
Sie seufzte tief. »Und im Ramey-Fall und in all den anderen Fällen. Jedes Mal, wenn ein Opfer einer Sexualstraftat in den Zeugenstand tritt, muss es alles noch einmal durchmachen.«
»Aber vielleicht kann das Erlebte nur so verarbeitet werden. Nur so vergessen werden. Vielleicht kann das Leben nur so weitergehen.«
Sie wandte sich wieder zu ihm um, und in ihren Augen war so viel Kummer und Bedauern, dass ihm das Herz wehtat. »Das vergisst man nie«, sagte sie ruhig. »Kann sein, dass das Erlebte verblasst, kann sein, dass man weiterlebt, aber man vergisst es niemals.« Sie öffnete die Tür und stieg aus. »Kommen Sie. Bringen wir es hinter uns«, sagte sie, ohne zu ihm zurückzuschauen.
Verblüfft blieb er sitzen und sah, wie sie sich dem Haus zuwandte und langsam darauf zuging. Endlich kam er in Bewegung und holte sie ein. »Kristen …«
Sie schüttelte den Kopf, eine resolute Geste, die ihm klar machte, dass er es auf sich beruhen lassen sollte. Er hätte ohnehin nicht gewusst, was er hätte sagen sollen.
Sie deutete auf die Auffahrt. »Die Restons haben Besuch.«
Sie hatte Recht. Autos parkten vor dem Haus und auf der anderen Seite der Straße ebenfalls.
»Mr. Reston war ihr Sprecher. Damals hatten sie sich zusammengetan«, erklärte sie, während sie weiterging. »Und das hat sich anscheinend nicht geändert.«
Sie mussten nicht einmal anklopfen. Die Tür öffnete sich, als sie auf die Veranda traten.
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