Desiderium
Verteidigung: ich hatte höchst tiefgehende, äußerst philosophische Gedanken über den Existenzgrund seiner Wenigkeit und anderer Sehnsüchte gehabt, das war doch schon mal ein Anfang. »Aber, Jaron, jetzt hast du mich schon hierher gebracht. Also: Erzähl mir etwas von dir, bitte. Wer ist der Mann, der mich zur Sportskanone trimmt?« Der letzte Satz klang vermutlich ironisch, doch ausnahmsweise war es nicht so gemeint.
Der Ansatz eines Lächelns kräuselte Jarons Lippen, als er sich von der Wand abstieß. Dieses Mal kam er nicht langsam auf mich zu, sondern geradezu in Zeitlupe. »Ein Vorschlag: Wir unterhalten uns und ich e rzähle dir alles, was interessant sein könnte. Aber du beantwortest meine Fragen ebenfalls ehrlich.«
»Du hast Fragen an mich?«
Das Lächeln wurde eine Spur schiefer. Betont lässig – offenbar ein Versuch seine heutige Sentimentalität zu überspielen – zuckte er mit den Schultern. »Die ein oder andere – möglicherweise.«
Ein letzter kurzer Moment, dann trat ich zur Seite und löste die Verbindung zwischen unseren Augen. »Einverstanden.«
Um meinen guten Willen zu zeigen, begann ich mir eine Frage zu übe rlegen. »Netter Einrichtungsstil. Sehr ausgefallen. Haben die Bilder irgendeine Bedeutung oder sind sie von einem bekannten Maler?«
»Es gibt nicht viele Sehnsüchte, die so gut wie jedem ein Begriff sind – auch wenn ich sicherlich zu den etwas bekannteren zähle«, fügte er mit einem arroganten Grinsen hinzu. »Warte kurz.«
Er ging hinüber zu seinem Schreibtisch und griff nach etwas, das ich nicht erkennen konnte. Keine Minute später kam er mit einer Staffelei inklusive Leinwand zurück. Darauf waren Bleistiftskizzierungen einer Frau mit hohen Wangenknochen, vollen Lippen und langem welligen Haar. Ich erkannte Lillian auf den ersten Blick.
»Ich erinnere mich. Du hast erzählt, dass du malst. Die Bilder sind von dir.«
»Früher war es ein guter Ausgleich zum Sport. In letzter Zeit finde ich keine Zeit mehr dafür.« Er vermisste es, wurde mir bewusst.
»Klingt, als sollte ich mich dafür entschuldigen.«
Jaron erwiderte darauf nichts, stattdessen ließ er die Staffelei stehen, wo sie war, und öffnete die Glastür. Er stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab und machte eine einladende Geste nach draußen.
Dass wir Spaziergänge machten, wurde allmählich zur Gewohnheit.
Hinter dem Haus erstreckte sich eine Grünfläche, die lediglich auf der rechten Seite von dem breiten, namenlosen Fluss begrenzt wurde. Am Ufer wuchsen zwischen den kniehohen Grashalmen verschiedene Blumen. Von Gänseblümchen und Klatschmohn über Lilien bis hin zu Orchideen und anderen Pflanzen, die ich nur von Bildern kannte.
»Die hast du nicht angepflanzt, oder?«, fragte ich, während ich neben ihm herging. Neben ihm! Ausnahmsweise sah es nicht danach aus, als müsste ich ihm ständig hinterher rennen.
»Nein, Gartenarbeit ist nicht so ganz mein Fall. Lillian kümmert sich um die Pflanzen. Sie hat dieses Hobby für sich entdeckt. So weit ich weiß sogar freiwillig.«
Dass ich mir nur schwer vorstellen konnte, wie seine Freundin in ihren engen Jeans auf dem Boden kniete und Erde unter ihre perfekt man ikürten Fingernägel kommen ließ, behielt ich für mich.
»Wann und wie hast du sie und Darragh eigentlich kennengelernt?« Das hielt ich für eine gute Frage. Nach so etwas fragte man die Leute, mit denen man Zeit verbrachte.
Das Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. »Daran habe ich ewig nicht mehr gedacht. Circa ein halbes Jahr nachdem ich … ‚hierher gekommen’ bin, stand Lillian plötzlich vor meiner Tür. Groß, lange kastanienbraune Haare, violette Augen; ohne dass sie darauf Wert legte, war sie perfekt in Szene gesetzt. Ich hingegen sah zu dieser Zeit aus … einfach ungepflegt und mit deutlich mehr Fett als Muskeln.«
» Nein! Das glaub ich nicht.« Ich versuchte ihn mir mit langen, ungewaschenen Haaren, einem Bart, einfarbiger Kleidung und einem Bierbauch vorzustellen. Doch so sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht. Unmöglich!
»Ich bin alles andere als stolz drauf, aber es war so. Wir sind an diesem Tag ins Gespräch gekommen und offenbar war mein Charme bereits stark genug, um sie für mich zu interessieren. Wir sind recht schnell zusammengekommen und ich hab angefangen, zu trainieren. Deshalb hast du heute die Ehre, diesen perfekt gebauten Körper zu begutachten.«
»Ja, ich hatte mir schon fest vorgenommen, mich beim Gebet heute Abend dafür
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