Desiderium
u nser Rätsel gelöst.«
»Was zum …« Er beeilte sich aufzustehen, als ich mich bereits in Bewegung setzte. An das Picknick dachte ich nicht mehr.
»Cassim! Was hast du vor?«, rief er.
»Ich muss zurück! Ich kann es dir jetzt nicht erklären. Aber m orgen – wahrscheinlich. Oder übermorgen.«
Ich hatte mich überschätzt. Als ich im Keller landete, rollte ich erst einmal quer durch den Raum. Instinktiv zog ich den Kopf ein, doch das Knacken in meinem Nacken verhieß trotzdem Schmerz.
Als mein Gleichgewi cht endlich wieder hergestellt war, rannte ich nach oben. Hastig griff ich nach einer Jacke und meinem Portemonnaie auf der Kommode und verließ das Haus.
Die Außenbeleuchtung des Saint Helene- Krankenhauses entsprach mehr der eines Gefängnisses, nicht nur dank der scheinwerferähnlichen Leuchten, die den Innenhof alle Viertelstunde durchsuchten.
Mir reichte es allerdings schon draußen in der engen Gasse zu stehen, die die Nervenanstalt vom benachbarten Gebäude trennte.
»Papa«, raunte ich. Nie zuvor hatte ich die Gestalt, die sich immer in der Nähe meiner Mutter aufhielt, bewusst gerufen.
Eine geschlagene Minute musste ich warten.
»Du hast sie lange nicht mehr besucht. Das hat sie nicht verdient.« O, wie überraschend, dass er das sagte.
Mein Vater , pardon , das durch Sehnsucht übertragene Abbild meines Vaters, das sich in der falschen Welt befand, sah noch blasser aus als beim letzten Mal. Und wenn ich mich richtig an Jarons Erklärungen erinnerte, lag das daran, weil seine Zeit allmählich ablief. Bald würde ich ihn wohl wirklich nie wieder sehen.
»Du weißt, wer beziehungsweise was du bist?«, fragte ich ihn, statt darauf einzugehen.
»Mir ist bewusst, dass ich die größte Sehnsucht deiner Mutter bin. Sie sehnt sich nach deinem Vater. Ihre Selbstgespräche haben mir in den letzten Jahren einiges verraten: Beispielsweise dass du die aktuelle Auserwählte bist.«
»Ja.« Ich überlegte zu fragen, warum er mich nicht vorher aufg eklärt hatte oder ob er wusste, wie mein echter Vater gestorben war. Aber das musste bis zu einem späteren Treffen warten müssen. Es würde zu viel Zeit kosten. Zeit, die wir nicht hatten. »Warum bist du hier?«
» Das habe ich mir nicht ausgesucht.«
Ich zog die Augenbrauen hoch »Also wurdest du gezwungen?«
» Eines Tages überkam mich das Bedürfnis, in die Nähe eines Portals zu gehen. Da deine Mutter viele Erinnerungen auf mich übertragen hat, wusste ich schon damals von dem Geheimnis. Ich erwartete, dich oder Noemie dort zu sehen. Ich traf auf Niemanden, aber mit einem Mal fühlte ich mich als würde ich durch eine viel zu enge Röhre gepresst werden. Hätte ich noch atmen müssen, wäre ich sicherlich erstickt. Im nächsten Augenblick fand ich mich hier wieder. Dennoch versuchte ich mich so oft wie möglich von deiner Mutter fernzuhalten.«
»Außer wenn ich kam.«
»Die Versuchung ist deutlich größer, wenn du kommst, ja. In diesem Punkt muss deine Anziehung als Auserwählte bereits vor Jahren stark gewesen sein.«
Sofern sie es nicht selbst schon bemerkt hatte, würde ich dafür sorgen, dass meine Mutter niemals davon erfuhr. Kein Wunder, dass sie immer wieder Rückfälle erlitten hatte, wenn sie ihn nach manchen meiner Besuche sah. Da wäre jeder in der Psychiatrie gelandet. Oder eben geblieben.
»Wo war der Übergang, durch den du hierher gekommen bist?«
»Hinter einer der Städte führte zumindest damals eine Holzbrücke über den Fluss. Dort in der Nähe muss das Portal gewesen sein. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«
Ich dafür schon. Ich war nicht weit entfernt gewesen. So konnte ich mir immerhin sagen, dass das sehnsüchtige Gefühl beim Spaziergang nichts mit Jaron zutun gehabt hatte.
»Angenommen dein unfreiwilliger Übergang war kein Einzelfall, bedeutet das, dass jemand Sehnsüchte in die normale Welt entführt. Warum?«
»Ungleichgewicht, Chaos. Es gab schon immer Verbrechen, die in den Augen der Meisten keinen Sinn ergaben.«
» Gut. Dann fehlt noch das ‚Wie?’. Das bekomme ich noch heraus. Spätestens wenn ich weiß, wer dahinter steckt.« Ich sorge dafür, dass das nicht mehr lange dauert. »Da wäre noch eine andere Sache: Tu mir einen Gefallen und versuche dich weiterhin so weit es geht von meiner Mutter fernzuhalten. Es ist für alle Beteiligten besser.«
»Ich werde mein Bestes geben.«
Die Sehnsucht verschwand so leise wie sie gekommen war, während ich mich müde und mit rauchendem Kopf auf den
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