Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Desperation

Desperation

Titel: Desperation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
dachte an König Darius’ Abschiedsworte zu Daniel,
bevor dieser weggeführt wurde: »Dein Gott, dem du ohne
Unterlaß dienst, der helfe dir!« Und noch etwas, das Daniel
am nächsten Tag gesagt hatte, warum Gott den Löwen die Rachen zugehalten hatte –
    »David! D-D-DAVID!«
Aber er würde sich nicht mehr umdrehen. Er konnte es nicht. Es gefiel ihm nicht, wenn sein Vater weinte, und er hatte
ihn noch nie derartig weinen sehen oder hören. Es war
schrecklich, als hätte ihm jemand eine Ader in seinem Herzen
aufgeschnitten.
»David, antworte mir!«
»Halten Sie die Klappe, Kumpel«, sagte Marinville.
»Sie halten die Klappe«, fuhr Mary ihn an.
»Aber er scheucht den Kojoten auf!«
Sie beachtete ihn nicht. »David, was machst du da?«
David antwortete nicht. Über das, was er vorhatte, konnte
man sich nicht rational verständigen, selbst wenn er die Zeit
gehabt hätte, weil der Glaube nicht rational war. Das hatte ihm
Reverend Martin immer wieder gesagt, hatte es ihm eingebleut wie eine wichtige Rechtschreibregel: Vernünftige Männer und Frauen glauben nicht an Gott. Das war alles, die nüchterne Wahrheit. Du kannst es nicht von der Kanzel predigen, weil
dich die Gemeinde dann aus der Stadt jagen würde, aber es ist die
Wahrheit. Bei Gott geht es nicht um Vernunft; bei Gott geht es um
Glauben und Vertrauen. Gott sagt: »Klar, nimm das Sicherheitsnetz
weg. Und wenn das weg ist, nimm auch noch das Hochseil weg.« Er füllte die hohlen Hände wieder mit Wasser und spritzte
es sich ins Gesicht und auf die Haare. Den Kopf. Auf den kam
es vor allem an, das wußte er bereits. Das war der dickste Teil
von ihm, und er glaubte nicht, daß der Schädel eines Menschen besonders biegsam war.
David schnappte sich das Stück Irischer Frühling und seifte
sich damit ein. Die Mühe mit den Beinen sparte er sich, sie
würden kein Problem sein, aber er arbeitete sich gründlich
von der Taille an aufwärts, wobei er immer fester rieb und
mehr Schaum erzeugte. Sein Vater schrie immer noch auf ihn
ein, aber er hatte keine Zeit mehr, zuzuhören. Wichtig war, er
mußte schnell sein … und nicht nur, weil ihn wahrscheinlich
der Mut verlassen würde, wenn er zu lange an den Wächter
mit den gelben Augen dachte, der da draußen saß. Wenn er
die Seife trocknen ließe, würde sie ihn nicht mehr glitschig
machen, sondern statt dessen verkleben und ihn festhalten.
Er seifte sich hastig den Hals ein, dann Gesicht und Haar.
Mit zusammengekniffenen Augen, das Stück Seife in einer
Hand, ging er zur Zellentür. Etwa neunzig Zentimeter vom
Boden entfernt kreuzte eine waagerechte Querstange die
senkrechten Gitterstäbe. Der Abstand zwischen den Stäben
betrug mindestens zehn Zentimeter, möglicherweise zwölf.
Die Zellen in dem Block waren für Männer gebaut worden überwiegend kräftige Minenarbeiter -, nicht für magere elfjährige Jungs, daher ging er davon aus, daß er mühelos würde
durchschlüpfen können.
Wenigstens bis er zum Kopf kam.
Los doch, beeil dich, denk nicht drüber nach, vertrau auf Gott. Er kniete sich zitternd nieder, von der Taille an mit grünem
Seifenschaum bedeckt, und rieb das Stück Seife zuerst an der
Innenseite eines weißgestrichenen Gitterstabs ab, dann an der
eines anderen.
Am Schreibtisch erhob sich der Kojote. Sein Brummen
wurde zu einem Knurren. Er fixierte David Carver mit seinen
gelben Augen. Die Lefzen hatte er zu einem unangenehmen
Grinsen voller Zähne gefletscht.
»David, nein! Tu es nicht, Junge! Sei nicht verrückt!«
»Er hat recht, Kleiner.« Marinville stand am Gitter seiner
Zelle und hatte die Hände um zwei Stangen gelegt. Ebenso
Mary Jackson. Das war peinlich, aber durchaus verständlich,
wenn man überlegte, wie sein Vater rumbrüllte. Und es ließ
sich nicht mehr ändern. Er mußte gehen, und zwar gleich. Es
war ihm nicht gelungen, heißes Wasser aus dem Hahn zu fördern, und er dachte, daß die Kälte die Seife auf seiner Haut
schnell trocknen ließe.
Er dachte wieder an die Geschichte von Daniel und den Löwen, als er sich hinkniete und konzentrierte. Unter den gegebenen Umständen war das nicht besonders überraschend.
Als
König Darius am nächsten Tag gekommen war, ging es Daniel
prächtig. »Mein Gott hat den Löwen den Rachen zugehalten«,
sagte Daniel zu ihm, »denn vor ihm bin ich unschuldig.« Das
war nicht ganz richtig, aber David wußte, daß es das Wort unschuldig war. Es hatte ihn fasziniert und tief in seinem Inneren
etwas zum Klingen gebracht. Nun sagte er es zu dem

Weitere Kostenlose Bücher