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Desperation

Desperation

Titel: Desperation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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leises Plätschern von tropfendem und rinnendem Blut. Der
Rücken seines früher khakifarbenen Uniformhemds war mittlerweile trüb und braun.
Und ihr gefiel die Richtung nicht, in die er fuhr - nach Süden, zur Stadt hinaus. In dieser Richtung lag nur der riesige
Wall der Tagebaumine.
Der Streifenwagen rollte langsam die Main Street entlang
(sie ging davon aus, daß es sich um die Main Street handelte,
hießen sie nicht immer so?) und passierte die beiden letzten
Geschäfte, eine andere Bar, diese hier mit dem Namen Broken
Drum, und Harvey’s Kundendienst für Kleingeräte. Der
letzte Laden in der Straße war ein kleiner Schuppen, der irgendwie düster aussah und den Namen BODEGA trug, wie
man dem Schriftzug über der Tür entnehmen konnte; ein
Schild davor hatte der Wind aus seiner Verankerung gerissen.
Ölen konnte es trotzdem lesen: MEXIKANISCHE KÜCHE.
Die Sonne war ein untergehender Ball staubigen Feuers, die
Landschaft war von einer Art klarer, tagheller Düsternis erfüllt,
die Ellen apokalyptisch vorkam. Sie begriff, daß die Frage nicht
so sehr lautete, wo sie war, sondern wer sie war. Sie konnte nicht
glauben, daß sie dieselbe Ellen Carver sein sollte, die der PTA angehörte und sich überlegt hatte, ob sie in diesem Herbst für den
Schulrat kandidieren sollte; dieselbe Ellen Carver, die manchmal
mit ihren Freundinnen ins China Happiness essen ging, wo sie
alle mit jedem Mai Tai alberner wurden und sich über Mode und
Kinder und die Ehe unterhielten - in wessen Ehe es kriselte und
in wessen nicht. War sie die Ellen Carver, die ihre schönsten Klamotten aus dem Versandkatalog von Boston Proper hatte und
Parfüm Marke Red auflegte, wenn sie in amouröser Stimmung
war, und die ein komisches T-Shirt besaß, auf dem QUEEN OF
THE UNIVERSE stand? Die Ellen Carver, die zwei reizende Kinder großgezogen und ihren Mann behalten hatte, obwohl alle
anderen ringsum ihre verloren? Die ihre Brüste etwa alle sechs
Wochen nach Knötchen abtastete, die sich am Wochenende
abends gern mit einer Tasse heißen Tees und Pralinen auf dem
Sofa zusammenkuschelte und Taschenbücher mit Titeln wie Verschollen im Paradies las? Wirklich? Ach, wirklich? Nun, wahrscheinlich ja; sie war diese Ellens, und tausend andere, Ellen in
Seide und Ellen in Jeans und Ellen, die mit einem Rezept für
Brown Betty in der Hand auf dem Klo saß und pinkelte; sie war,
nahm sie an, sowohl diese Teile als auch mehr als die Summe
dieser Teile … aber konnte das wirklich bedeuten, daß sie auch
die Ellen Carver war, deren heißgeliebte Tochter ermordet worden war und die nun zusammengekauert auf dem Rücksitz
eines Streifenwagens saß, in dem es allmählich unerträglich
stank; eine Frau, die an einem umgefallenen Schild mit der Aufschrift MEXIKANISCHE KÜCHE vorbeigefahren war; eine
Frau, die ihr Haus und ihre Freunde und ihren Mann nie wiedersehen würde? War sie die Ellen Carver, die in eine schmutzige, windige Dunkelheit gefahren wurde, wo niemand den Katalog von Boston Proper las oder Mai Tais trank, in denen kleine
Schirmchen aus Papier steckten, und wo nur der Tod wartete?
»O Gott, bitte töten Sie mich nicht«, sagte sie mit einer verzagten, bebenden Stimme, die ihr fremd vorkam. »Bitte, Sir,
töten Sie mich nicht, ich will nicht sterben. Ich werde tun, was
Sie verlangen, aber töten Sie mich nicht. Bitte nicht.«
Er antwortete nicht. Es holperte unter ihnen, als der Asphalt
zu Ende war. Der Cop zog den Knopf, mit dem man die
Scheinwerfer einschaltete, aber sie schienen nicht viel zu helfen; sie sah zwei Lichtkegel, die in eine Welt tanzenden Staubs
hineinzuleuchten schienen. Ab und zu flog eine Windhexe
Richtung Osten an ihnen vorbei. Kies knirschte unter den Reifen und prallte gegen den Unterboden.
Sie kamen an einem langen, baufälligen Gebäude mit rostigen Metallwänden vorbei - eine Fabrik oder so -etwas, dachte
sie -, und dann stieg die Straße an. Sie fuhren den Wall hinauf.
»Bitte«, flüsterte sie. »Bitte, sagen Sie mir nur, was Sie wollen.«
»Huch«, sagte er, verzog das Gesicht und streckte eine
Hand in den Mund wie jemand, der ein Haar auf der Zunge
hat. Statt eines Haars zog er die Zunge selbst heraus. Er betrachtete sie einen Moment, wie sie schlaff wie ein Stück Leber
auf seiner Handfläche lag, dann warf er sie beiseite.
Sie fuhren an zwei Pickups, einem Müllwagen und einem
geisterhaften gelben Bagger vorbei, die allesamt an der ersten
Kurve der Straße zum Gipfel standen.
»Wenn Sie mich töten, machen Sie schnell«, sagte

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