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Desperation

Desperation

Titel: Desperation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sie mit ihrer zitternden Stimme. »Bitte, tun Sie mir nicht weh. Versprechen Sie mir wenigstens, daß Sie mir nicht weh tun werden.«
Aber die zusammengesunkene, blutende Gestalt am Steuer
des Streifenwagens versprach ihr nichts. Der Cop fuhr einfach
weiter durch den fliegenden Staub und steuerte das Auto zum
Kamm des Erdwalls. Oben zögerte er nicht, sondern steuerte
das Auto über den Rand, fuhr nach unten und ließ damit den
Wind über ihnen zurück. Ellen drehte sich um, weil sie ein
letztes Licht sehen wollte, aber es war zu spät. Die Mauern der
Grube hatten bereits den letzten Rest Sonnenschein verborgen. Der Streifenwagen fuhr in einen riesigen See der Dunkelheit hinab, einen Abgrund, der den Scheinwerfern spottete.
Hier unten war die Nacht bereits angebrochen.

Kapitel 2
1
    Du hast eine Bekehrung erlebt, hatte Reverend Martin einmal zu
David gesagt. Das war ziemlich am Anfang gewesen. Etwa zu
dem Zeitpunkt hatte David bemerkt, daß Reverend Gene Martin an den meisten Sonntagnachmittagen gegen vier Uhr nicht
mehr ganz nüchtern war. Es sollten freilich noch ein paar Monate vergehen, bis David herausfand, wieviel sein neuer Mentor tatsächlich trank. Deine Bekehrung ist die einzige echte Bekehrung, die ich je gesehen habe, und vielleicht die einzige echte, die
ich je sehen werde. Es sind keine guten Zeiten für den Gott unserer
Väter, David. Viele Leute reden, aber nur wenige handeln auch
danach.
David war nicht sicher, ob Bekehrung das richtige Wort war
für das, was er erlebt hatte, aber er zerbrach sich nicht lange
den Kopf darüber. Etwas war geschehen, und er hatte genug
damit zu tun, das zu verarbeiten. Dieses Etwas hatte ihn zu Reverend Martin geführt, und Reverend Martin hatte ihm - betrunken oder nicht - erzählt, was er wissen mußte, und ihm
Aufgaben gestellt, die er erledigen mußte. Als David ihn bei
einem dieser frühen sonntagnachmittäglichen Treffen (der
Fernseher in der Ecke zeigte an dem Tag stummen Baseball)
gefragt hatte, was er tun sollte, hatte Reverend Martin prompt
geantwortet. »Die Aufgabe des neuen Christen ist es, Gott zu
erfahren, Gott kennenzulernen, Gott zu vertrauen, Gott zu lieben. Und das ist nicht so, als würde man mit einer Liste in den
Supermarkt gehen, wo man seine Sachen in beliebiger Reihenfolge in den Korb laden kann. Es handelt sich um etwas, das
aufeinander aufbaut, wie man Mathematik vom kleinen Einmaleins an aufwärts lernt. Du hast Gott erfahren, und zwar auf
eine spektakuläre Weise. Jetzt mußt du ihn kennenlernen.«
»Nun, ich rede mit Ihnen«, hatte David gesagt.
»Ja, und du redest mit Gott. Oder nicht? Du hast doch nicht
aufgehört zu beten?«
»Nee. Aber ich bekomm nicht oft eine Antwort.«
Da hatte Reverend Martin gelacht und einen Schluck aus
seiner Teetasse getrunken. »Gott ist ein lausiger Gesprächspartner, kein Zweifel, aber er hat uns ein Handbuch hinterlassen. Ich würde vorschlagen, daß du es zu Rate ziehst.«
»Was?«
»Die Bibel«, hatte Reverend Martin gesagt und ihn mit
leicht blutunterlaufenen Augen über den Rand der Tasse hinweg angesehen.
Also hatte er angefangen, in der Bibel zu lesen, er hatte im
März angefangen und war knapp eine Woche oder so, bevor
sie Ohio verlassen hatten, mit der Offenbarung (»Die Gnade
unseres Herrn Jesu Christi sei mit euch allen!«) fertig geworden. Er hatte es wie mit den Hausaufgaben gehalten, zwanzig
oder dreißig Seiten pro Abend, sich Notizen gemacht, sich Stellen eingeprägt, die ihm wichtig erschienen, und nur die Teile
ausgelassen, die er laut Reverend Martin auslassen konnte,
hauptsächlich die Zeugungen. Woran er sich jetzt, als er zitternd am Spülbecken der Gefängniszelle stand und sic h mit
eiskaltem Wasser bespritzte, am deutlichsten erinnerte, war
die Geschichte von Daniel in der Löwengrube. König Darius
hatte Daniel eigentlich gar nicht da reinwerfen wollen, aber
seine Ratgeber hatten ihn in die Enge getrieben. David hatte
staunend erfahren, wie häufig es in der Bibel um Politik ging. »David, hör AUF DAMIT!« schrie sein Vater, so daß der
Junge aus seinen Gedanken hochschreckte und sich umsah.
Im zunehmenden Halbdunkel wirkte Ralph Carvers Gesicht
hager vor Entsetzen, seine Augen rot vor Kummer. In seiner
Aufregung hörte er sich selbst wie ein Elfjähriger an, der gerade einen irrsinnigen Wutanfall hatte. »Hör AUGENBLICKLICH damit auf, hast du mich verstanden ?«
David drehte sich ohne zu antworten wieder zu dem
Waschbecken um und spritzte sich Wasser in Gesicht und
Haare. Er

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