Desperation
nicht im geringsten, daß das Land der Toten vor den Toren von Columbus, Ohio, liegt.« Er sah David an, und sein
verhaltenes Lächeln verschwand. »Ich denke, es wird Zeit,
daß wir zur Sache kommen. Die Zeit wird knapp. Du wirst
übrigens einen wunden Hals haben, wenn du aufwachst, und
dich anfangs vielleicht desorientiert fühlen; sie schaffen dich
hinten in den Bus, mit dem Steve Ames in die Stadt gekommen ist. Sie verspüren das dringende Bedürfnis, das American West zu räumen - das kannst du auffassen, wie du willst -,
und ich muß sagen, ich kann es ihnen nicht verdenken.«
»Warum sind Sie hier?«
»Um sicherzustellen, daß du weißt, warum du hier bist, David … jedenfalls für den Anfang. Also sag mir: Warum bist du
hier?«
»Ich weiß nicht, was Sie -«
»O bitte«, sagte der Mann mit dem Radio. Seine verspiegelten Brillengläser funkelten in der Sonne. »Wenn nicht, sitzt du
tief in der Scheiße. Warum bist du auf der Erde? Warum hat
Gott dich geschaffen?«
David sah ihn konsterniert an.
»Komm schon, komm schon!« sagte der Mann ungeduldig.
»Das sind einfache Fragen. Warum hat Gott dich geschaffen?
Warum hat Gott mich geschaffen? Warum hat Gott überhaupt
jemanden geschaffen?«
»Damit sie ihn lieben und ihm dienen«, sagte David langsam.
»Okay, gut. Immerhin ein Anfang. Und was ist Gott? Welche Erfahrungen hast du mit dem Wesen Gottes?«
»Das will ich nicht sagen.« David sah seine Hände an, dann
wieder den ernsten, aufmerksamen Mann - den seltsam vertraut wirkenden Mann
- mit der Sonnenbrille. »Ich habe
Angst, ich gerate in Schwierigkeiten.« Er zögerte, dann gab er
seine wahre Befürchtung preis: »Ich habe Angst, Sie sind
Gott.«
Der Mann gab ein kurzes, wehmütiges Lachen von sich. »Es
gab eine Zeit, da dachte ich, du hättest recht. Was weißt du
vom Wesen Gottes? Welche Erfahrungen hast du gemacht?«
Mit größtem Widerstreben sagte David: »Gott ist grausam.«
Er betrachtete wieder seine Hände und zählte langsam bis
fünf. Als er da angekommen und immer noch nicht von einem
Blitzstrahl gebraten worden war, sah er wieder auf. Der Mann
in Jeans und T-Shirt war immer noch ernst und aufmerksam,
aber David sah keinen Zorn in ihm.
»Das stimmt, Gott ist grausam. Wir werden langsamer, die
Mumie erwischt uns am Ende immer, und Gott ist grausam.
Warum ist Gott grausam, David?«
Einen Augenblick lang antwortete er nicht, doch dann fiel
ihm etwas ein, was Reverend Martin gesagt hatte - an dem
Tag hatte der Fernseher in der Ecke ein stummes BaseballTrainingsspiel im Frühling übertragen.
»Gottes Grausamkeit veredelt«, sagte er.
»Wir sind das Bergwerk, und Gott ist der Bergmann?«
»Nun -«
»Und alle Grausamkeit ist gut? Gott ist gut, und Grausamkeit ist gut?«
»Nein, nein, das ist überhaupt nicht gut!« sagte David. Eine
kurze, gräßliche Sekunde lang sah er Törtchen wie einen
Mantel mit Haaren an der Wand hängen. Törtchen, die einen
Bogen um Ameisen auf dem Bürgersteig machte, weil sie ihnen nicht weh tun wollte.
»Was ist Grausamkeit, die um des Bösen willen begangen
wird?«
»Bosheit. Wer sind Sie, Sir«
»Egal. Wer ist der Vater der Bosheit?«
»Der Teufel… oder vielleicht diese anderen Götter, von denen meine Mutter gesprochen hat.«
»Vergiß die can tah und am tak, zumindest vorläufig. Wir
müssen uns um Wichtigeres kümmern, also hör gut zu. Was
ist Glauben?«
Das war leicht. »Glauben ist die Substanz all unserer Hoffnungen, der Beweis für unsichtbare Dinge.«
»Yeah. Und was ist der spirituelle Daseinszustand der
Gläubigen?«
»Hm… Liebe und Anerkennung. Würde ich sagen.«
»Und was ist das Gegenteil von Glauben?«
Das war schwieriger
- sogar eine echt harte Nuß. Wie bei
einem dieser verdammten Lesetests. Kreuze a, b, c oder d an.
Nur hatte man hier nicht einmal die Auswahl. »Zweifel?«
mutmaßte er.
»Nein, David. Nicht Zweifel, sondern Unglauben. Jener ist
natürlich, dieser ist gewollt. Und wenn man ungläubig ist,
David, in was für einem spirituellen Daseinszustand ist man
dann?«
Er dachte darüber nach. Schüttelte den Kopf. »Ich weiß
nicht.«
»Doch, du weißt es.«
Er dachte noch einmal nach und merkte, daß er es tatsächlich wußte. »Der spirituelle Daseinszustand von Unglauben
ist Verzweiflung.«
»Ja. Schau nach unten, David!«
Er gehorchte und stellte erschrocken fest, daß sich der Vietcong-Wachposten nicht mehr auf dem Baum befand. Jetzt
schwebte er, wie ein fliegender Teppich aus Brettern, über einer
weiten Wüstenlandschaft. Hier und da
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