Desperation
eine
Erleichterung war. Dies ist mein Leib, gebrochen für dich und für
viele. Er schlug die Augen auf und fürchtete, er könne trotzdem Reverend Martins betrunkenes Gesicht und die toten
Augen sehen, aber Reverend Martin war nicht da.
David spuckte die Verpackung aus und kletterte mit dem
süßen Geschmack von Schokolade im Mund zum VietcongWachposten hinauf. Je höher er kam, desto deutlicher wurde
der Klang von Rockmusik.
Jemand saß im Schneidersitz auf der Plattform und schaute
über Bear Street Woods hinweg. Seine Haltung hatte so große
Ähnlichkeit mit der von Brian
- Schneidersitz, Kinn auf die
Handflächen gestützt
-, daß David einen Moment lang überzeugt war, es müsse sich um seinen Freund handeln, der zwischenzeitlich zu einem jungen Mann herangewachsen war. Er
dachte, daß er damit fertig werden würde. Es wäre nicht seltsamer als das verwesende Ebenbild seiner Mutter oder der
Puma mit Audrey Wylers Köpf, aber bei weitem nicht so
beunruhigend.
Über der Schulter des jungen Mannes hing ein Radio an
einem Tragegurt. Kein Walkman oder Gettoblaster; es wirkte
älter. Das Ledergehäuse war mit zwei runden Aufklebern versehen, ein gelber Mr. Smiley der eine, das Peace-Zeichen der
andere. Die Musik kam aus einem kleinen Außenlautsprecher. Der Sound war blechern, aber dennoch ziemlich cool,
heiße Drums, mörderische Baßgitarre: »Let me in, baby,I don’t
know what you got, But you better take it easy, this place is hot And
I’m so glad we made it…«
»Bri?« fragte er, hielt sich am Rand der Plattform fest und
zog sich hoch. »Bist du das?«
Der Mann drehte sich um. Er war schlank, dunkle Haare sahen unter einer Baseball-Kappe der Yankees hervor, er trug
Jeans, ein einfaches graues T-Shirt und eine Brille mit großen
verspiegelten Gläsern. Es war der erste Mensch, dem David in
diesem … was immer es war … begegnet war, den er nicht
kannte. »Brian ist nicht hier, David«, sagte er.
»Und wer sind Sie?« Wenn der Mann mit der verspiegelten
Brille anfing zu verwesen oder zu verbluten wie Entragian,
würde David schleunigst diesen Baum räumen, ohne einen
Gedanken an die Mumie zu verschwenden, die irgendwo unten im Wald lauern mochte. »Das ist unser Treffpunkt. Brians
und meiner.«
»Brian kann nicht hier sein«, sagte der dunkelhaarige Mann
liebenswürdig. »Weißt du, Brian ist noch am Leben.«
»Ich versteh Sie nicht.« Aber er fürchtete, daß er doch verstand.
»Was hast du Marinville gesagt, als er versucht hat, mit den
Kojoten zu reden?«
David brauchte eine Weile, bis es ihm wieder einfiel, was an
sich nicht überraschend war, denn was er gesagt hatte schien
nicht aus ihm gekommen, sondern durch ihn gegangen zu sein.
»Ich sagte ihm, daß er nicht in der Sprache der Toten reden
soll. Aber eigentlich war es gar nicht ich, der -«
Der Mann mit der Sonnenbrille winkte ab. »Die Sprache, in
der Marinville mit den Kojoten sprechen wollte, ist die Sprache, die wir jetzt sprechen: si em, tow en can de lach. Hast du
verstanden?«
»Ja. >Wir sprechen die Sprache der Ungeformten.< Die Sprache der Toten.« David fing an zu zittern. »Dann bin ich auch tot… oder nicht? Ich bin auch tot.«
»Nee. Falsch. Immer mit der Ruhe.« Der Mann stellte sein
Radio lauter - » Wait a minute, baby, let it happen to you!« und
lächelte. »Spencer Davis Group«, sagte er. »Der Sänger heißt
Steve Winwood. Cool?«
»Ja«, sagte David, und das meinte er ernst. Er hatte den Eindruck, er könne den Song den ganzen Tag lang hören. Er
mußte unwillkürlich an den Strand denken, und an bezaubernde Mädchen in zweiteiligen Badeanzügen.
Der Mann mit der Yankee-Kappe lauschte noch einen Moment der Musik, dann stellte er das Radio ab. Als er das tat,
sah David eine gezackte Narbe unten an seinem rechten
Handgelenk, als ob er irgendwann versucht hätte, sich das
Leben zu nehmen. Dann fiel ihm ein, daß der Mann vielleicht
mehr als nur den Versuch unternommen hatte; war das hier
nicht ein Ort der Toten?
Er unterdrückte ein Schaudern.
Der Mann nahm seine Yankee-Kappe ab, wischte sich den
Nacken damit ab, setzte sie wieder auf und sah David ernst
an. »Das hier ist das Land der Toten, aber du bist eine Ausnahme. Du bist etwas Besonderes. Etwas ganz Besonderes.«
»Wer sind Sie?«
»Das spielt keine Rolle. Nur ein weiteres Mitglied des Spencer-Davis-Group-Fanclubs, was das angeht«, sagte der Mann.
Er sah sich um, seufzte und verzog ein wenig das Gesicht.
»Aber eins ich kann dir sagen, junger Mann: Es überrascht
mich
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