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Desperation

Desperation

Titel: Desperation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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abhängen. »Das stimmt nicht.« Er festigte
den Griff, indem er dem Jungen die linke Hand auf die Brust
drückte, verzog das Gesicht, als Davids Fersen frische Schmerzen in seine Schienbeine hämmerten, und glitt mit der rechten
Hand zur Hüfte des Jungen. Von dort an bewegte sie sich mit
der unmerklichen Geschicklichkeit eines guten Taschendiebs.
Johnny nahm David ab, was er ihm seinem Auftrag gemäß abnehmen sollte.
»Er kann sie nicht alle nehmen und es mich nicht zu Ende bringen lassen! Das kann er nicht tun! Das kann er nicht!« Johnny zuckte zusammen, als eine Ferse des Jungen seine
linke Kniescheibe traf. »Steve!«
Steve starrte den Adler, der immer noch zuckte und einen
Flügel spreizte, von einer grausigen Faszination erfüllt an. Die
Klauen des Vogels waren bis zu den Ansätzen rot verfärbt.
    »Steve, gottverdammt noch mal!«
Er sah auf, als wäre er aus einem Traum gerissen worden.
Cynthia kniete neben Ralph, fühlte nach seinem Puls und
schluchzte laut.
»Steve, kommen Sie hierher!« rief Johnny. »Helfen Sie mir!« Steve kam herüber und nahm David, der sich nun noch heftiger wehrte.
»Nein!« David warf den Kopf wie toll von einer Seite auf die
andere. »Nein, es ist meine Aufgabe! Meine! Er kann sie nicht alle
nehmen und mich zurücklassen! Haben Sie gehört? ER KANN SIE
NICHT ALLE NEHMEN UND -«
»David! Hör auf!«
David hörte auf, sich zu wehren, und hing in Steves Armen
wie eine Marionette mit durchgeschnittenen Fäden. Seine
Augen waren rot und verweint. Johnny glaubte, daß er noch
nie so viel Trostlosigkeit und Schmerz im Gesicht eines Menschen gesehen hatte.
Der Motorradhelm lag da, wo er ihn fallengelassen hatte,
als der Adler angriff. Johnny bückte sich, hob ihn auf und betrachtete den Jungen in Steves Armen. Steve sah so aus, wie
Johnny sich fühlte
- elend, hilflos, bestürzt.
»David -« begann er.
»Ist Gott in Ihnen?« fragte David. »Können Sie ihn da drinnen spüren, Johnny? Wie eine Hand? Oder ein Feuer?«
»Ja«, sagte Johnny.
»Dann werden Sie das nicht falsch verstehen.« David
spuckte ihm ins Gesicht. Der Speichel fühlte sich warm auf
der Haut unter Johnnys Augen an, wie Tränen.
Johnny versuchte nicht, den Speichel des Jungen wegzuwischen. »Hör mir zu, David. Ich werde dir etwas sagen, das du
nicht von deinem Priester oder aus der Bibel gelernt hast. Soweit ich weiß, ist es eine Botschaft von Gott persönlich. Hörst
du zu?«
David sah ihn nur an und sagte nichts.
»Du hast gesagt: >Gott ist grausam< wie jemand, der sein
ganzes Leben auf Tahiti verbracht hat, sagen würde: >Schnee
ist kalt.< Du hast es gewußt, aber nicht verstanden.« Er trat
näher zu David und legte dem Jungen die Handflächen auf
die kalten Wangen. »Weißt du, wie grausam dein Gott sein
kann, David? Wie unvorstellbar grausam?«
David wartete, sagte aber nichts. Vielleicht hörte er zu, vielleicht nicht. Johnny konnte es nicht sagen.
»Manchmal läßt er uns leben.«
Johnny drehte sich um, hob die Taschenlampe auf, ging tiefer in den Schacht, drehte sich aber noch einmal um. »Geh zu
deinem Freund Brian, David. Geh zu deinem Freund und
mach ihn zu deinem Bruder. Und dann sag dir selbst, daß es
auf dem Highway zu einem Unfall gekommen ist, einem
schlimmen Unfall, ein bis zur Besinnungslosigkeit Betrunkener ist über den Mittelstreifen gerast, das Wohnmobil hat sich
überschlagen, und nur du hast überlebt. Das passiert andauernd. Schau nur in die Zeitung.«
»Aber das ist nicht die Wahrheit!«
»Könnte es aber sein. Und wenn du wieder in Ohio oder Indiana bist, oder wo immer du deinen Hut aufhängst, dann
bete, daß Gott dich das alles hier überwinden läßt. Daß er dich
wieder gesund macht. Vorerst bist du vom Unterricht befreit.«
»Ich werde nie wieder ein Wort… was? Was haben Sie gesagt?«
»Ich sagte, du bist befreit.« Johnny sah ihn starr an. »Vom
Unterricht befreit.« Er drehte den Kopf. »Bringen Sie ihn raus,
Steve. Bringen Sie alle hier raus.«
»Boß, was -«
»Die Tournee ist vorbei, Tex. Bringen Sie alle zum Bus und
fahren Sie die Straße rauf. Wenn Sie in Sicherheit sein wollen,
würde ich mich sofort auf den Weg machen.«
Johnny drehte sich um und eilte im Laufschritt den ChinaSchacht hinunter. Der Lichtstrahl der Taschenlampe eilte ihm
hüpfend voraus, und wenig später war auch der verschwunden.
5
    Trotz der Taschenlampe stolperte er über etwas, wäre beinahe
gestürzt und ging langsamer weiter. Die chinesischen Bergleute hatten in ihrem hektischen, nutzlosen Bemühen,

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