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Desperation

Desperation

Titel: Desperation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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zu entkommen, alles fallen lassen, was sie bei sich hatten, und am
Ende hatten sie sich selbst fallenlassen. Er schritt über eine
Landschaft verstreuter Gebeine, die er zu Staub zermalmte,
und bewegte die Taschenlampe konstant im Dreieck von links
nach rechts, auf den Boden und wieder hoch nach links -, damit er sich diese Landschaft genau einprägen konnte. Er sah,
daß die Wände förmlich mit chinesischen Schriftzeichen übersät waren, als wären die, die den Einsturz des Schachts überlebt hatten, in eine Schreibwut verfallen, als der Tod näherrückte und sie schließlich übermannte.
Zusätzlich zu den Knochen sah er Blechtassen, uralte
Spitzhacken mit rostigen Enden und komischen kurzen Stielen, kleine rostige Kästchen an Gurten (die Kerosinlampen, von denen David gesprochen hatte, dachte er), verrottete Kleidungsstücke, Hirschlederschuhe (sie waren winzig,
man hätte sie für Kinderschuhe halten können), und schließlich drei Paar Holzschuhe. In einem steckte der Stummel
einer Kerze, die gegossen worden sein konnte, als Abe Lincoln noch Anwalt in einem Hinterwäldlerkaff in Illinois
war.
Und überall, überall zwischen den Überresten, lagen die can
tahs: Kojoten mit Spinnen als Zungen, Spinnen, aus deren
Mäulern unheimliche kleine Albinoratten ragten, Fledermäuse mit gespreizten Flügeln und ekligen Babys als Zungen
(die Babys sahen wie höhnische Gnome aus). Manche stellten
Alptraumgeschöpfe dar, die nie auf der Erde existiert hatten,
Zwerge und Mißgeburten, die Johnnys Augen beleidigten. Er
konnte spüren, wie die can tahs ihn riefen und an ihm zogen
wie der Mond an Salzwasser. Manchmal hatte er einen ähnlichen Sog verspürt, wenn ihn das plötzliche Verlangen ergriff,
einen Drink zu sich zu nehmen, ein süßes Dessert zu verschlingen oder den samtweichen Umriß eines Frauenmunds
mit der Zunge nachzuziehen. Die can tahs sprachen im Tonfall
des Wahnsinns, den er aus seinem früheren Leben kannte:
einschmeichelnde, vernünftige Stimmen, die unaussprechliche Handlungen vorschlugen. Aber die can tahs würden keine
Macht über ihn haben, wenn er sich nicht bückte und sie aufhob. Wenn er das vermeiden konnte - wenn er Verzweiflung
vermeiden konnte, die im Gewand der Neugier daherkam -,
dachte er, würde ihm nichts geschehen.
Hatte Steve sie schon nach draußen gebracht? Er konnte es
nur hoffen, und mußte hoffen, daß Steve sie mit seinem braven Bus ein gutes Stück wegbringen würde, bevor das Ende
kam. Ein gigantischer Knall stand bevor. Er hatte nur die zwei
Beutel ANMO an ihrer Schnur um den Hals hängen, aber das
würde mehr als genug sein, alles, was zu ihrem Vorhaben erforderlich war. Aber es war ihm klüger erschienen, das den
anderen nicht zu sagen. Sicherer.
Nun konnte er das leise Ächzen hören, von dem David
gesprochen hatte: das Knistern des instabilen Hornfelsen, als
würde die Erde selbst sprechen. Sich gegen sein Eindringen
verwahren. Und jetzt konnte er ein trübes Zickzack roten
Lichts vor sich erkennen. In der Dunkelheit konnte man nur
schwer sagen, wie weit entfernt. Auch der Geruch war stärker
geworden, und deutlicher: kalte Asche. Links von ihm kniete
ein Skelett - der Größe nach zu urteilen, wahrscheinlich kein
Chinese - an der Felswand, als wäre es im Gebet gestorben.
Unvermittelt drehte es den Kopf und schenkte Johnny Marinville ein totes Grinsen weißer Zähne.
- Verschwinde, solange du noch Zeit dazu hast. Tak ah wan. Tak
ah lah.
Johnny trat gegen den Schädel, als wäre er ein Football. Der
Schädel zerbarst (wurde fast pulverisiert) in Knochenfragmente, und Johnny eilte weiter auf das rote Licht zu, das aus
einem Riß in der Felswand strahlte. Das Loch sah so groß aus,
als könne er sich gerade hindurchzwängen.
Er blieb davor stehen und sah in das Licht, konnte aber von
der Schachtseite aus nicht viel erkennen, während er in seinem Kopf Davids Stimme hörte - etwa so wie jemand unter
Hypnose die Stimme des Hypnotiseurs hören muß, der ihn in
Trance versetzt hat: Am Nachmittag des einundzwanzigsten September, zehn Minuten nach eins, brachen die ersten Arbeiter zu
einem Raum durch, den sie zuerst für eine Höhle hielten … Johnny warf die Taschenlampe beiseite - er würde sie nicht
mehr brauchen - und zwängte sich durch die Öffnung. Als er
das an tak betrat, schien das murmelnde Fahrstuhlschachtgeräusch, das sie am Eingang des Schachts gehört hatten, seinen Kopf mit flüsternden Stimmen zu erfüllen … verführerisch, schmeichelnd, abschreckend. Überall

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