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Desperation

Desperation

Titel: Desperation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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das wußte,
ich würde sie finden und mich an ihn erinnern.
Er sagte sich, daß er sich bescheuert anhörte, durch und
durch verrücktoid, aber das Verrückteste war, es klang ganz
und gar nicht so. Laut ausgesprochen hätte es sich vielleicht
verrückt angehört, aber in seinem Kopf schien es vollkommen
logisch zu sein.
Ohne darüber nachzudenken, was er tat/steckte David das
rot-silberne Papier in den Mund und lutschte die letzten Krümel süßer Schokolade von der Innenseite. Das machte er mit
geschlossenen Augen, während frische Tränen unter seinen
Lidern hervorquollen. Als die Schokolade verschwunden und
nur noch der Geschmack von nassem Papier übrig war,
spuckte er die Verpackung aus und ging weiter.
Am östlichen Rand der Lichtung stand eine Eiche mit zwei
dicken Ästen, die in etwa sechs Metern Höhe ein V bildeten.
Die Jungs hatten nicht gewagt, richtig Gas zu geben und ein
Baumhaus in dieser verlockenden Gabel zu bauen
- jemand
hätte es sehen und sie zwingen können, es wieder abzureißen
-, aber sie hatten an einem Sommertag vor einem Jahr Bretter,
Hämmer und Nägel hierhergebracht und eine Plattform gezimmert, die immer noch da war. David und Brian wußten,
daß manchmal Kids von der High School sich dort aufhielten
(sie hatten Zigarettenkippen und Bierdosen auf den nachgedunkelten alten Brettern gefunden, und einmal eine Strumpfhose), aber anscheinend nur nach Einbruch der Dunkelheit,
und die Vorstellung, daß große Jungs etwas benutzten, das sie
beide gemacht hatten, war irgendwie schmeichelhaft. Die ersten beiden Handgriffe, die man packen mußte, um hinaufzuklettern, waren auch hoch genug angebracht, um die kleinen
Kinder zu entmutigen.
David kletterte mit feuchten Wangen und verquollenen
Augen hinauf, hatte immer noch den Geschmack von Schokolade und nassem Papier im Mund und immer noch das Keuchen des Akkordeon-Dings im Ohr. David glaubte, er würde
eine andere Spur von Brian auf der Plattform finden/so wie
die »Three Muskies«-Verpackung auf dem Weg, aber es war
nichts da. Nur das am Stamm festgenagelte Schild, auf dem
stand: VIETCONG-WACHPOSTEN, das da hing, seit sie die
Plattform gemacht hatten. Sie hatten sich dazu (und zu dem
Namen, den sie dem Pfad gegeben hatten) von einem alten
Film mit Arnold Schwarzenegger inspirieren lassen, an dessen Titel sich David nicht erinnerte. Er hatte immer damit gerechnet, daß er eines Tages heraufkommen und feststellen
würde, die großen Jungs hätten das Schild runtergerissen
oder so was wie LUTSCH MEINEN SCHWANZ draufgesprüht, aber das hatte nie jemand gemacht. Er vermutete, daß
es ihnen hier auch gefiel.
Eine Brise strich durch die Bäume, berührte sein Gesicht,
kühlte seine heiße Haut. An jedem anderen Tag hätte Brian
diese Brise mit ihm genossen. Sie hätten die Füße baumeln
lassen, sich unterhalten, gelacht. David fing wieder an zu
weinen.
Warum bin ich hier?
Keine Antwort.
Warum bin ich hergekommen? Hat mich etwas dazu gebracht? Keine Antwort.
Falls jemand da ist, bitte antworte!
Lange Zeit keine Antwort… und dann bekam er doch eine,
und er glaubte nicht, daß er nur Selbstgespräche in seinem
Kopf führte, daß er sich selbst antwortete und sich dann etwas
vormachte, um wenigstens ein bißchen Trost zu bekommen.
Der Gedanke, der ihm durch den Kopf schoß, schien - genau
wie an Brians Bett - keinesfalls aus ihm selbst zu kommen. ]a, hatte diese Stimme gesagt. Ich bin hier.
Wer bist du?
Der ich bin, sagte die Stimme und verstummte danach, als
würde das tatsächlich etwas erklären.
David schlug die Beine übereinander, setzte sic h im Schneidersitz mitten auf die Plattform und machte die Augen zu. Er
umfing die Knie mit den Händen und bemühte sich, so gut es
ging, seinen Geist zu öffnen. Er hatte keine Ahnung, was er
sonst tun sollte. Auf diese Weise wartete er eine unbestimmte
Zeitspanne, hörte die fernen Stimmen der Kinder auf dem
Heimweg und sah rote und schwarze Umrisse über die Innenseiten seiner Lider huschen, während der Wind durch die
Zweige über ihm strich und Sonnenschein unregelmäßig über
sein Gesicht strich.
Sag mir, was du willst, fragte er die Stimme.
Keine Antwort. Die Stimme schien nichts zu wollen.
    Dann sag mir, was ich tun soll.
Keine Antwort von der Stimme.
Aus weiter, weiter Ferne hörte er die Sirene der Feuerwehr
in der Columbus Broad. Es war fünf Uhr. Er saß seit mindestens einer Stunde mit geschlossenen Augen auf der Plattform, wahrscheinlich eher zwei. Seine Eltern mußten inzwischen gemerkt

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