Desperation
trotzdem beängstigend. Es gab jedesmal, wenn es nach oben fuhr,
einen tiefen, teilnahmsvollen Laut von sich. Ein Keuchen. Als
wäre ein Teil von Brian nicht zu sehr weggetreten, um Schmerzen zu empfinden, und dieser Teil wäre aus seinem Körper geholt und in die Plastikröhre befördert worden, wo er jetzt
noch größere Schmerzen verspürte. Wo er von dem weißen
Akkordeon-Ding zu Tode gepreßt wurde.
Und dann waren da die Augen.
David spürte, wie seine Augen immer wieder zu ihnen gezogen wurden. Niemand hatte ihm gesagt, daß Brians Augen
offen waren; bis jetzt hatte er gar nicht gewußt, daß die Augen
offen sein konnten, wenn man bewußtlos war. Debbie ROSS hatte ihm gesagt, er solle nicht erschrecken, daß Brian keinen
schönen Anblick bieten würde, aber sie hatte nicht den Blick
eines ausgestopften Elchs erwähnt. Aber vielleicht war das ja
richtig so; vielleicht war man nie auf die wirklich schrecklichen Dinge vorbereitet, in keinem Alter.
Ein Auge von Brian war blutunterlaufen, und die riesige
schwarze Pupille hatte das Braun bis auf einen winzigen Rand
verschlungen. Das andere war klar und die Pupille schien
normal zu sein, aber sonst war nichts normal, denn es war
keine Spur von seinem Freund in diesen Augen zu sehen, keine. Der Junge, der ihn mit den Worten zum Lachen gebracht
hatte: O Scheiße, die Mumie ist hinter uns her, laßt uns alle ein
bißchen schneller gehen, war gar nicht in diesem Zimmer…
höchstens in der Plastikröhre, der Gnade des weißen Akkordeons ausgeliefert.
David sah weg
- betrachtete den genähten, angelhakenförmigen Schnitt, den Verband, das eine wächserne Ohr, das er
unter dem Verband sehen konnte -, und dann wanderte sein
Blick wieder zu Brians offenen, starren Augen mit ihren nicht
zueinander passenden Pupillen. Das Nichts darin zog ihn an,
die Abwesenheit, das Wegsein in diesen Augen. Das war mehr
als nur falsch. Es war … war …
Böse, flüsterte eine Stimme tief in seinem Kopf. Es war eine
Stimme, wie er sie noch nie in seinen Gedanken gehört hatte,
eine vollkommen fremde, und als Debbie ROSS ihm eine Hand
auf die Schulter legte, mußte er die Lippen zusammenpressen, um nicht zu schreien.
»Der Mann, der das getan hat, war betrunken«, sagte sie mit
heiserer, tränenerstickter Stimme. Frische Tränen liefen an
ihren Wangen herab. »Er sagt, er kann sich an gar nichts erinnern, daß er einen Blackout gehabt hat, und weißt du, was
schrecklich ist, Davey? Ich glaube ihm.«
»Deb -« begann Mr. ROSS , aber Brians Mom beachtete ihn
nicht.
»Wie konnte Gott zulassen, daß sich dieser Mann nicht
daran erinnert, wie er meinen Sohn mit seinem Auto angefahren hat?« Ihre Stimme war lauter geworden. Ralph Carver
hatte erschrocken den Kopf zu der offenen Tür hereingestreckt, und eine Schwester, die einen Wagen den Flur entlangrollte, blieb wie angewurzelt stehen. Sie sah mit zwei
großen blauen Ach-du-meine-Güte-Augen in Zimmer 508.
»Wie konnte Gott so barmherzig zu jemandem sein, der es verdient hätte, schreiend mit Erinnerungen an das Blut aufzuwachen, das aus der Kopfwunde meines armen Jungen geflossen
ist, und zwar jede Nacht für den Rest seines Lebens?«
Mr. ROSS legte ihr einen Arm um die Schultern. Draußen vor
der Tür zog Ralph Carver den Kopf zurück wie eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer verkriecht. David sah es und
hatte seinen Vater vielleicht deswegen gehaßt. Ganz sicher
war er hinterher nicht mehr. Deutlich erinnerte er sich nur an
Brians blasses, regloses Gesicht, auf das der deformierte Verband zu drücken schien - das wachsbleiche Ohr, die schreckliche Schnittwunde mit ihren roten Lippen, die der schwarze
Faden zu einem Schmollen zusammenhielt, und die Augen.
Am deutlichsten erinnerte er sich an die Augen. Brians Mutter
stand da, weinte und schrie, und diese Augen veränderten
sich kein bißchen.
Aber er ist da drinnen, dachte David plötzlic h, und dieser Gedanke schien, wie so vieles, seit seine Mutter ihm von
Brians Unfall erzählt hatte, nicht von ihm selbst zu kommen, sondern nur durch ihn hindurchzuströmen … als wären sein Körper und sein Geist zu einer Art Rohrleitung geworden.
Er ist da drinnen, das weiß ich. Immer noch da drinnen, wie
jemand, der unter einem Erdrutsch begraben wurde … oder in
einem eingestürzten Stollen …
Debbie ROSS verlor endgültig die Beherrschung. Sie heulte
beinahe, schüttelte sich im Griff ihres Mannes und versuchte,
sich daraus zu befreien. Er führte sie zu den roten Stühlen
zurück, aber es
Weitere Kostenlose Bücher