Dessen, S
fast umgekrempelt. Nachts blieb ich zu Hause, lernte und schlief. Dafür war ich morgens und nachmittags unterwegs, fast wie ein normaler Mensch. Anders als normale Menschen aber war ich häufig allein. Wenn ich nicht im
Clementine's
arbeitete oder mit Maggie übte, war ich zu Hause, ignorierte Jasons SMS und die Anrufe meiner Eltern.
Mir war klar, dass sie sich vermutlich fragten, was los war, und dass es kindisch war, wie ich reagierte, doch aus irgendeinem Grund fühlte es sich gerade deswegen richtig an. Als wäre auch das ein Teil meiner Mission. Was mich aber wahrscheinlich am meisten davon abhielt, ans Telefon zu gehen, war Angst. Immer wieder kam mir die Wut in den Sinn, die mich im Hotelfahrstuhl überkommen hatte. Wenn ich mit einem von ihnen auch nur ein Wort reden würde, könnte es durchaus sein, dass diese Wut explodieren und uns alle verschlingen würde.
Das einzige Familienmitglied, mit dem ich Kontakt hatte, war Hollis, allerdings auch nur spärlich. Wobei das eher daran lag, dass er mit Haut und Haar in seinem neuen Leben mit Laura aufging. Die Beziehung meines Vaters zersetzte sich allmählich, die meiner Mutter hatte sich – wie üblich – gar nicht erst entwickelt. Hollis hingegen war nicht nur immer noch – weit über seine bisherige Beziehungshalbwertszeit hinaus – total verliebt, sondern hatte gleich die nächste schockierende Überraschung für mich parat.
»Hollis West.«
Ich war verblüfft, fast erschrocken, obwohl ich persönlich seine Nummer gewählt hatte und daher wusste, dass er dran sein würde. Aber das sollte mein Bruder sein? Dieser geschäftsmäßige Ton?
»Aud! Hey! Kleinen Moment, ich gehe eben raus.«
Ich hörte ein paar gedämpfte Geräusche, eine Tür wurde geschlossen, dann drang Hollis’ Stimme wieder an mein Ohr: »Tut mir leid, wir sind eigentlich in einer Besprechung, machen bloß eine kurze Pause.«
»Du und Laura?«
»Nein. Ich und die anderen Finanzberater.«
»Bitte wer?«
Er räusperte sich. »Meine Kollegen. Ich arbeite inzwischen bei der
Main Mutual Bank
, hat Mom das nicht erwähnt?«
Stimmt, ich erinnerte mich dunkel, dass meine Mutter etwas von einer Bank erzählt hatte. »Kann schon sein«, antwortete ich. »Seit wann bist du denn da?«
»Seit drei Wochen oder so«, erwiderte er. »Aber die Zeit rast echt dahin. Für mich geht hier richtig die Post ab.«
»Das heißt, es gefällt dir?«, fragte ich irritiert.
»Und wie!« Ich hörte Hupen. »Wie sich herausstellt, bin ich im Umgang mit Kunden richtig gut. Anscheinend war das ganze Abhängen und Rumlabern in Europa letztlich doch zu etwas nütze.«
»Du gehst also gut mit Kunden um?«
»Scheint so.« Er lachte. »Erst hab ich an den normalen Schaltern gearbeitet, aber schon nach einer Woche bin ich zu den Serviceschaltern versetzt worden, das heißt, ich kümmere mich um Kontoänderungen oder Schließfachanträge und so Zeug.«
Ich versuchte, mir Hollis an einem Schalter vorzustellen, in einer Bank oder sonst wo. Doch vor meinem geistigen Auge erschien immer wieder nur das eine Bild: Hollis vor dem Tadsch Mahal, Rucksack geschultert, breites Grinsen. So sah eine SUPERZEIT also auch aus?
»Ich muss gleich wieder rein, Aud«, meinte er. »Wie läuft es bei euch? Wie geht es Dad und Heidi und meiner anderen kleinen Schwester?«
Ich zögerte. Wusste, dass ich ihm von Dads Auszug erzählen sollte. Er hatte ein Recht darauf, es zu erfahren. Doch ich wollte nicht diejenige sein, die die Nachricht überbrachte. Das wäre so, als würde Dad wieder mal einen Satz unvollendet und mir die Drecksarbeit überlassen. Deshalb sagte ich nur: »Alles in Ordnung. Wie geht es Mom?«
Er seufzte. »Ach, du weißt schon, mürrisch und gereizt, wie immer. Offenbar enttäusche ich sie maßlos, weil ich meinem Unabhängigkeitsstreben abgeschworen und mich einer bürgerlichen Existenz zugewandt habe.«
»Kann ich mir lebhaft vorstellen.«
»Außerdem fehlst du ihr.«
Ehrlich gesagt schockierte mich das fast so sehr wie sein neues Leben als Arbeitnehmer. »Mom fehlt niemand«, erwiderte ich. »Sie ist sich selbst vollkommen genug.«
»Falsch.« Er hielt kurz inne. »Hör mal, Aud, ich weiß, ihr beide hattet in diesem Sommer Probleme miteinander, aber du solltest trotzdem mal mit ihr reden. Das Drama mit Finn ist immer noch nicht vorbei und …«
»Finn?«
»Der Doktorand. Der im Auto vorm Haus übernachtet, weißt du nicht mehr?«
Mir fiel das schwarze Brillengestell ein. »Doch doch.«
»Es ist wie
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