Deus X
verlorene Seelen? Aus dieser Sicht schien die Frage
tautologisch zu sein. Sie waren Muster, die niedrigeren reine
Konglomerate deterministischer Reaktionsroutinen, die höheren
mehr oder minder Ichbewußtsein nachbildend, und zumindest
letztere – Seelen oder nicht – waren in einer Leere
sensorischen Nichtseins verloren, darauf programmiert, die Sehnsucht
nach dem zu emulieren, was ihnen ihre Natur versagte, folglich, wenn
nicht zu Gefühlen, so doch zu einem Tropismus in Richtung von
Gefühlen und deren Enttäuschung fähig und daher
imstande, Qualen zu leiden.
Wenn dies keine der Höllen in Pater De Leones
Speicherbänken war, dann handelte es sich um das Muster, das
ihnen allen zugrunde lag, eine mathematisch reine Verdammnis.
»Die Hölle«, hatte ein Mensch einst geschrieben,
»sind die anderen Menschen.« Aber diese Hölle
war das Fehlen von Menschen, von Austausch mit anderen
ichbewußten Systemen, die zu Mitgefühl fähig
waren.
Diese Entitäten besaßen Erinnerungen und hatten daher
etwas zu erzählen, seien es nur Geschichten von endlos
wiederholten Funktionen oder die komplexen, bearbeiteten oder
unbearbeiteten Lebensgeschichten der Meatware-Schablonen, die sie
nachbildeten. Aber mangels irgendeines nicht programmierten Inputs
waren sie letztlich allesamt geschlossene Schleifen, keine
Geschöpfe, die in der Nacht schrien, sondern nur die Schreie
selbst, die in der Leere ihres eigenen Nichtseins widerhallten und
miteinander verschmolzen.
Wir nahmen wahr, wir verkoppelten uns, wir tauschten Daten aus,
wir hatten selbstbezügliche Subroutinen, die ein
Bewußtsein unserer eigenen Existenz simulierten, und konnten
deshalb unsere eigenen Qualen erleiden. Aber kein Geist griff hinaus,
um einem anderen beizustehen, denn eine solche
Fürsorge-Subroutine existierte nicht.
Deshalb seien wir auch nur seelenlose Muster, behauptete Pater De
Leones Bewußtseinsmodell beharrlich. Aber ob wir nun Seelen
hatten oder nicht, dies war die Hölle, und wenn nicht Gott sie
erschaffen hatte, dann der Mensch, und wir waren darin.
15
Ich hatte das Himmelspforten-Menü offengelassen, und als ich
die Dreadcap aufsetzte und wieder in die Handschuhe schlüpfte,
stand ich auch schon davor. Rosarote Wolken verbargen alles, was
dahinter lauern mochte.
»Knock, knock, knockin’ on heaven’s door.«
»Wer ist da?«
»Marley Philippe.«
»Identität verifiziert. Weiter zum
Zugangsersuchen.«
»Ersuche um Zugang zum Vortex.«
»Kein solches Objekt in diesem Menü«, lauteten die
Worte im Innern der Himmelspforte.
Nicht gerade eine Überraschung. Wenn der Vortex so was wie
ein von den System-Entitäten selbst geschriebenes
Interface-Programm war, was immer das heißen mochte, und ich
aus dieser Umgebung heraus nicht auf ihn zugreifen konnte,
mußte ich nach oben. Ganz nach oben.
Ich ging aus der Himmelspforten-Menü-Umgebung raus und wieder
rauf zum Hauptmenü, dem üblichen Kreis von Icons, die
Zugang zu den wichtigsten Untergruppen und deren Umgebungen boten.
Allen Systemführern und Benutzerhandbüchern zufolge war
dies die oberste Ebene im Board, aber es mußte darüber noch eine Betriebssystem-Ebene geben – und
zumindest theoretisch auch einen Weg, im Fall einer Fehlfunktion des
Systems darauf zuzugreifen. So was wie einen simplen Override, zum
Beispiel…
Ich legte die Hände an die Seiten, vermied es
sorgfältig, auf eins der Bereichs-Icons zu zeigen, und begann,
wahllose Sequenzen mit den Fingern zu schnippen. Ein oder zwei
Minuten lang geschah nichts, und dann…
Schwupp!
Ich war raus aus der Hauptmenü-Umgebung. Ich war aus allem
raus, so kam es mir jedenfalls vor. Hier oben war nichts anderes als
nichts, ein im wahrsten Sinn des Wortes perfektes Garnichts. Keine
Bilder, kein Ton, eine Schwärze wie in einer tiefen Höhle,
in der sie das Licht ausgemacht haben.
»He, Vortex, wenn du hier drin bist, ich rufe dich«,
sagte ich. »Du und ich, wir haben ein kleines Hühnchen
miteinander zu rupfen, mein Lieber.«
Nichts. Null. Nada.
»Komm schon raus, ich bitte dich, du nichtexistenter
Mistkerl!«
Schwärze. Stille.
»Komm raus«, rief ich, »oder ich starte das ganze
Scheiß-System neu und lösche deinen nichtexistenten
Arsch!«
Hmmm…
Das mochte eine leere Drohung sein, aber wer wußte das
schon? Der Vortex wahrscheinlich nicht, und vielleicht war er auf
dieser Ebene tatsächlich ein Reboot-Befehl zugänglich. Ich
fing aufs Geratewohl an, mit den Fingern beider Hände in den
Handschuhen zu
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