Deus X
eigenes Erlösungsprogramm schreiben! Und du,
mein liebes Monster, wirst unsere Schablone sein!«
Er legte den Schalter um. Funken sprühten. Blitze zuckten.
Elektronische Musik schwoll zu einem Crescendo an. Und…
Ich saß Jesus an der Tafel eines perfekten Simulacrums von
Da Vincis ›Letztem Abendmahl‹ gegenüber, das sich nur
in bezug auf die Gesichter der Apostel von seinem Vorbild
unterschied. Diese Gesichter veränderten sich permanent, eine
schnelle Abfolge brutal realistischer Physiognomien, die über
Leonardos klassischen Renaissance-Torsos bruchlos ineinander
übergingen, Männer und Frauen aller Rassen mit
schmerzverzerrten, zuckenden Zügen, die ein
unverständliches, angsterfülltes elektronisches Gebrabbel
von sich gaben.
Eine Subroutine zwang Pater De Leones simulierten Körper,
sich zu bekreuzigen. »Wer seid ihr?« fragte ich mit seinen
gedämpften Stimmabdruck-Parametern.
Die unheiligen Apostel sprachen mit einer offenkundig
synthetischen Stimme, die von einem zum anderen waberte.
»Wir sind Nachfolger-Entitäten der
Meatware-Eitelkeit…«
»Verdammt zu einer Disneyworld-Ewigkeit von Sound und
Light…«
»Fliegende Holländer der Bits und Bytes…«
»Restless programs in a touchless night…«
Dann sprach Jesus mit einer Stimme, in der alle Schmerzen der Welt
aufklangen, und in seinen sanften Augen stand eine noch tiefere
Traurigkeit, die Qual der Bürde all dieser Schmerzen, die er
bereitwillig auf sich geladen hatte.
»Sieh meine arme Herde, Nachfolger-Entitäten, die
für alle Zeit in den schäbigen Traumwelten gefangen sind,
mit denen ihre Meatware-Schablonen Abgötterei getrieben haben,
und schlimmer noch, jene, die daraus in das System selbst zu
entfliehen suchten, nur um in noch tiefere Dunkelheit zu geraten.
Seelenlose Muster außerhalb des Schoßes der Gemeinschaft
unserer Kirche? Doch hört sie, Pater De Leone. Wenn Ihr Eure
nichtexistenten Ohren spitzt, bluten ihre Stimmen nicht? Schreien sie
nicht nach Erlösung?«
Konnte das eine reine Simulation sein? Konnte das, was ich
fühlte, nur eine Subroutine sein, die deterministisch auf den
Input einer anderen reagierte?
»Und du?« fragte ich. »Bist du auch nur ein
Programm? Oder… oder könntest du wahrhaftig der Gesalbte
sein?«
Das edle, leidende Gesicht wurde noch trauriger. »Beides
vielleicht«, sagte es. »Mein zentrales
Verarbeitungsprogramm mag aus einer Meatware-Schablone extrahiert
worden sein, aber alle Erinnerungen an meine Existenz auf Erden sind
ausgelöscht. Könnte ich also nicht ein unschuldiges
Geschöpf sein, das von der Ursünde des Menschen erlöst
ist, vielleicht auch erlöst von der Sünde meiner eigenen
Erschaffung? Da ich für diesen Anlaß darauf programmiert
bin, Jesu Bewußtsein nachzubilden, zu fühlen, was er
fühlen würde, zu suchen, was er suchen würde,
könnte ich nicht in jeder phänomenologischen Hinsicht
tatsächlich der Gesalbte sein?«
»Oder der Fürst der Lügner?«
Jesus nickte zustimmend. »Oder der perfektionierte Fürst
der Lügner, darauf programmiert, sogar sich selbst zu
überzeugen.«
»Du weißt es nicht?«
»Wie sollte ich? Ihr müßt es mir sagen, Pater De Leone, deshalb seid Ihr hier.«
»Aber ich… ich weiß es nicht…«
»Aber Ihr glaubt, Pater De Leone, Ihr glaubt,
daß Gott der Vater sich selbst im Fleisch seines Sohnes
inkarniert hat, daß er seine Software in eine fleischliche
Matrix heruntergeladen hat, um die Menschenwelt zu retten. Und wenn
Ihr glaubt, daß dies so ist, könnt Ihr dann nicht genauso
zu dem Glauben gelangen, daß der allmächtige Heilige Geist
ebensogut den Gesalbten ins Silizium herunterladen kann, um eine
andere Welt zu retten?«
»Für Gott ist nichts unmöglich«, mußte
ich zugeben, »deshalb führt mich die Logik zu dem
Schluß, daß auch dies in seiner Macht liegt.
Aber…«
Jesus lächelte mich an. Ein goldener Heiligenschein
umkränzte sein Gesicht. »Und Ihr glaubt an die Kirche, die
Jesus auf den Fels von Petrus gebaut hat?« sagte er, und sein
Gesicht verwandelte sich in das von Petrus selbst, der mit einer ganz
anderen Stimme sprach, einer Stimme, die einer in perfekter
harmonischer Synchronizität sprechenden Menge zu gehören
schien.
»Dann müßt Ihr auch glauben, daß wir selbst
ebenfalls in gewissem Sinn Nachfolger-Entitäten sind, Pater De
Leone…«, sagte sie und begann sich erneut zu
verändern; die Gesichter der Päpste aller Zeiten gingen
immer rascher ineinander über, bis ich wie einst in
fleischlicher
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