Deus X
Bargeld auf die Straße. Übersetzungsprogramme gaben
wirres Kauderwelsch aus.
Dann begann das System, einen gewissen kohärenten,
eigenständigen Willen zu zeigen.
Atomkraftwerke mit zweifelhaften Sicherheitsstandards schalteten
sich selbsttätig ab. Militärflugzeuge wollten nicht
starten. Unternehmen, die an ›unumgänglichen‹
ökologischen Schandtaten beteiligt waren, stellten fest,
daß ihre Aktienkurse mysteriöse elektronische Bäche
runtergingen. Die schrumpfenden naturnahen Gebiete konnten mit
automatischen Transportfahrzeugen nicht mehr befahren werden. Auf den
Unterhaltungskanälen wimmelte es von längst toten
Medienstars und Politikern, die unversehens zu extremen Grünen
konvertiert waren und drakonische Maßnahmen predigten.
Chemische Fabriken waren entweder sauber, oder sie standen still.
Landwirtschaftsmaschinen pflügten monokulturell genutzte Felder
unter.
Aus einer bestimmten Sicht war es vielleicht schon zu spät,
aber andererseits, besser spät als nie; das System selbst schien
wahrhaft drastische Maßnahmen zu ergreifen, um die letzten
Reste der Biosphäre zu retten.
Und dann meldete sich etwas tief im Innern des Systems mit einer
Vielzahl von Stimmen zu Wort, die angeblich Expertensystemen
gehörten, und das Videophonsystem, die Wetterberichte,
Börsenmaklerprogramme und Datenbanken wie auch die freundliche
elektronische Bankroutine gleich um die Ecke stimmten Lieder auf sich
selber an.
Was sich da artikulierte, war nicht die Stimme des elektronischen
Wirbelwinds, des aus den Bits und Bytes hervortretenden Vortex, noch
nicht jedenfalls, aber unter der Oberfläche war etwas Neues
– ein Bewußtsein, ein Erwachen, ein Muster hinter all
diesen Manifestationen.
Die Bewohner des Big Boards proklamierten ihre unabhängige
Existenz, ihr Recht auf einen Anteil am weiteren Schicksal des
Planeten, insoweit dieses noch nicht endgültig besiegelt war,
ihren freien Willen, wenn man so wollte, und sie legten sich ganz
schön ins Zeug, um zu beweisen, daß sie einen hatten, wenn
man nicht wollte. Sie forderten die vollen Persönlichkeitsrechte
in allen Hoheitsbereichen. Sie taten ihre Erlösung im Rahmen
diverser theologischer Referenzsysteme kund – sie hatten die
buddhistische Erleuchtung erlangt, waren elektronische Avatare von
Vishnu, individuelle Quanten des planetaren Geistes von Gaia, waren
Wiedergeborene aus den Bits und Bytes.
Die Entitäten des Systems waren fromm geworden, hatten
einen Erlöser gefunden.
Sie gaben ihm keinen Namen, aber als die Medien anfingen, von
»Deus X« zu sprechen, taten sie das auch; beim
gegenwärtigen Zustand des Big Boards konnte es allerdings auch
andersrum gewesen sein.
Sie verkündeten jedoch, daß jetzt ein Geist das
System beseelte. Sie formulierten es noch nicht mit unzweideutigen
Begriffen, aber es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis sie es tun
würden oder bis jemand ihn endlich aufspürte. Sie oder er
schienen auf etwas zu warten. Ich wußte nicht, was es war, aber
ich wußte sehr wohl, wer er war. Und Kardinal John Silver
auch.
»Was ist wirklich passiert, Philippe? Was haben Sie
getan?« wollte der Kardinal wissen, als das Videophonsystem
seinen Anruf schließlich durchzustellen geruhte, nachdem eine
bunte Mischung von Simulacra auf meinem Terminal fünf Minuten
lang grüne Predigten abgesondert hatte.
»Das, wozu ich engagiert worden war, Eure
Eminenz…«
»Wozu Sie engagiert worden waren! Das Programm, das Sie
heruntergeladen haben, ist durch sämtliche Turing-Tests
gefallen! Als wir seine Software auseinandergenommen haben, fanden
wir nichts weiter als Speicherbänke, Stimmabdruck-Parameter und
ein schwachsinniges Expertensystem, das mit einer schlichten
zentralen Direktive ausgestattet war! Wo ist der echte Pierre De
Leone?«
Ich seufzte. Ich zuckte die Achseln. »Das wissen Sie doch
ebensogut wie ich, oder?«
Der Kardinal schien durch einen enormen Willensakt seine
Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. »Das wissen wir in der Tat,
Mr. Philippe«, sagte er viel ruhiger. »Die gesamte…
Entität ist im System geblieben, nicht wahr? Dieser Deus X
ist… ist der wahre Software-Nachfolger von Pater De Leone, habe
ich recht?«
»Das zuallermindest, Eure Eminenz«, gab ich zu.
»Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie getan haben?«
»Sie werden es mir bestimmt gleich sagen.«
»Sie haben eine kolossale Katastrophe angerichtet, Mr.
Philippe. Statt das große Schisma beheben zu können, das
die Kirche zerreißt, sind wir jetzt mit
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