Deus X
du, was ich meine? Was es auch
war, woher es auch kam, diese Lady hatte es, sie war irgendwie nicht
nur ganz normal da, sondern ein bißchen mehr als
das.
»Hat Kardinal Silver Sie über die Lage in Kenntnis
gesetzt?« fragte sie.
»In sehr klaren Worten, Eure… äh…
Heiligkeit…«, antwortete ich.
»Wollen wir dann gleich zur Sache kommen?«
»Ich schaue mir nur eben Ihre Ausrüstung
an…«
Komisch. Speicher- und Verarbeitungshardware vom Feinsten, aber
primitiver Mist, wo es ums Interface ging – Bildschirme,
Lautsprecher, Tastaturen, Joysticks und Kontrollhandschuhe, aber
keine Dreadcaps, nicht mal ein Holotank –, nur Sachen aus der
Zeit um die Jahrtausendwende.
»Sie wirken nicht sehr beeindruckt, Mr. Philippe«, sagte
die Päpstin.
»Nichts Besseres als Flachbildschirme, Eure
Heiligkeit?«
»Wir versuchen, uns nicht mit unnötigen Trugbildern zu
täuschen«, sagte die Päpstin. »Wird es damit
gehen?«
Ich zuckte die Achseln. »Wenn’s überhaupt
geht.« Ich setzte mich vor einen der großen
Flachbildschirme, schlüpfte mit der rechten Hand in einen
Kontrollhandschuh, holte das Hauptmenü auf den Bildschirm,
schnippte ein paarmal mit den Fingern und versuchte, mir die Sequenz
ins Gedächtnis zu rufen. Nach ein paar Versuchen wurde der
Bildschirm leer.
»Was ist los?« fragte Kardinal Silver.
»Nichts. Ich hab einen Override-Befehl entdeckt, mit dem man
ins Betriebssystem kommt… das den Handbüchern zufolge gar
nicht existiert. Aber er ist ja schließlich auch
nicht…«
»Und jetzt?« sagte die Päpstin.
»Jetzt beschwöre ich Loas aus den Bits und Bytes
herauf… hoffe ich…«
Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. »He, Vortex,
ich rufe dich!«
Nada. Nur wahlloses Pixelkonfetti auf einem schwarzen
Bildschirm.
»Erbitte Zugang zu Deus X.«
Nichts.
»Er ist auch nicht besser als unsere eigenen
Techniker…«
»Ruhe, John!« sagte die Päpstin.
»Ich rufe dich, Pierre De Leone, ich, Marley Philippe! Im
Namen des Vaters und des Sohnes und des Software-Geistes! Ich rufe
deinen Geist aus der ungeheuren Tiefe!«
Eine Kräuselung lief über den Bildschirm. Pixelmuster
blitzten auf, prallten zusammen, wurden zu einem Wirbel flimmernder
Stäubchen, einem Muster, einer stilisierten Feuersäule, in
der eine Vielzahl kohärenter Gesichter knapp diesseits der
Sichtbarkeitsschwelle zu schweben schienen, und dann…
Und dann begann sich ein anderes Gesicht zu formen, eigentlich nur
eine Silhouette, ein Kompositum, ein optisches stehendes
Wellenmuster, das geisterhafte Gesicht eines alten Mannes, ein
Konsens-Bild, das wie ein hauchfeiner Film über dem
Phosphorpunkt-Chaos lag.
Aber die Stimme war klar und kräftig, und sie sprach mit
einem vertrauten Stimmabdruck-Parameter.
»Hallo, Marley«, sagte Pierre De Leone. Mehr oder
weniger. Es war sein Stimmabdruck-Parameter, das schon, aber wie das
Bild schien er ein Kompositum zu sein. Doch im Gegensatz zum Bild war
nichts Hauchfeines daran. Es war kein blasses Simulacrum der Stimme
von Pater De Leone, sondern Pater De Leone und… noch etwas.
»Hallo, Pater… oder soll ich Sie jetzt Deus X
nennen?«
Das Gesicht von Pierre De Leone schien sich zu festigen,
während die Gesichter der ungreifbaren Menge so weit
verblaßten, daß sie kaum noch sichtbar waren, obwohl das
Feuer hinter der Silhouette weiterbrannte.
»Wenn Ihnen das lieber ist«, sagte er.
Die Päpstin trat in den Aufnahmebereich der Kamera. Sie stand
direkt rechts hinter mir, und eine Hand lag auf der Rücklehne
meines Stuhles.
»Sie fügen der Kirche schweren Schaden zu, Pater De
Leone, oder wer oder was Sie auch sind«, sagte sie.
»Ich wurde zum Dasein erweckt, um die Kirche zu retten,
nicht, um ihr Schaden zuzufügen, wenn Sie sich erinnern wollen,
Eure Heiligkeit«, sagte er in einem gebieterischen Ton, der dem
mythischen Deus X angemessen war, aber mit dem ironischen
Sprachduktus eine nörglerischen alten Priesters.
»Um die Kirche zu retten?« fauchte die Päpstin.
»Wenn die Welt erfährt, daß wir Deus X erschaffen
haben, ohne es zu ahnen, ist dies das Todesurteil für die
Kirche, und das ist Ihre Schuld! Sie sind mir gegenüber
wortbrüchig geworden, Pierre De Leone! Sie waren darauf
eingeschworen, von der Anderen Seite aus Stellung gegen die Existenz
Ihrer Seele zu beziehen, aber nicht darauf, dieses Chaos im System
anzurichten oder die Wesen darin aufzuwiegeln, die Existenz ihrer
eigenen Seelen zu proklamieren!«
»Ich habe keinen solchen Schwur abgelegt«,
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