Deutsche Geschichte
München: S.
Boom auf dem Rücken der Schwächsten
Die Gründerjahre (1870er Jahre)
Not im Überfluss war das Signum der nun anbrechenden Epoche. Mit dem Sieg über Frankreich war nicht nur Geld in die Kassen gekommen, sondern auch blühende Provinzen waren angegliedert worden. Die elsässische Textilindustrie beflügelte die deutsche, das lothringische Erz eröffnete der Stahlindustrie schönste Aussichten. Und außerdem waren endlich die hemmenden Binnengrenzen und die letzten Binnenzölle in Deutschland gefallen, die den Sprung zum Industriestaat bisher behindert hatten. Dabei hatte vor allem das Währungsdurcheinander eine unheilvolle Rolle gespielt. Das war nun überwunden, und im Zusammenwirken mit dem Siegesrausch ergab sich eine unwiderstehliche Aufbruchsstimmung.
Auf dem Rücken der Schwächsten
Der Konjunkturschub erzeugte ein beispielloses Gründungsfieber. Bald aber folgte der Katzenjammer: Die gesetzlich noch in keiner Weise geregelte Spekulation verleitete in vielen Fällen zu schwindelhaften und geradezu tollkühnen Unternehmungen. Das Ergebnis war der Krach an den Börsen im Frühsommer 1873 mit nachfolgender Pleitewelle. Die Wirtschaft erholte sich zwar nach einer Pause wieder, doch vom folgenden stetigen Aufstieg profitierten wie schon vom Gründerboom nur wenige. Die große Mehrheit, das Volk, hatte nichts oder kaum etwas davon. In der Hochkonjunktur stiegen die Preise schneller als die Löhne, und danach wurde die Krise auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen, die massenweise ihre Stellungen verloren. Die Beschäftigung im Berliner Maschinenbau etwa fiel von 1873 bis 1877 von 35 000 auf 16 000. Ende der 1870-er Jahre waren schätzungsweise 25 bis 28 Prozent der Arbeiter in Industrie und produzierendem Gewerbe ohne Anstellung.
„Hinterhofkultur“
Außerdem hatte der Boom zahllose Menschen in die Städte gezogen, wo die Mieten aufgrund ungebremster Spekulation explodierten. Zu sieben oder mehr Personen mussten Familien einen Raum bewohnen, in feuchten Kellern hausen oder sich in die wie Pilze aus dem Boden schießenden grauen Mietskasernen pferchen lassen. Das Obdachlosenproblem nahm brisante Formen an. Unendlich viele Menschen gerieten in einen Teufelskreis aus sozialem Abstieg, Arbeitslosigkeit und Verelendung. Es bildete sich eine Hinterhofkultur, wie sie der Maler Heinrich Zille (1858-1929) mit spitzem Stift festgehalten hat. Seine im Rückblick pittoresken Szenen waren für die betroffenen Proletarier freilich alles andere als heiter.
Auswanderung
1881 erreichte der Strom deutscher Auswanderer nach Amerika mit über 220 000 Menschen eine Rekordmarke und blieb bis 1890 auf hohem Niveau. Das war auf die trotz wirtschaftlichen Wachstums schlechte soziale Lage in Deutschland, den strukturellen Wandel durch die Industrialisierung, aber auch auf politische Unzufriedenheit zurückzuführen. Hinzu kam Bevölkerungsdruck: Von 24,5 Millionen Menschen um 1800 war die deutsche Bevölkerung gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf 65 Millionen angewachsen. Viele deutsche Länder hatten die Auswanderung daher lange als Ventil genutzt und sie ärmeren Familien sogar per Zuschuss ermöglicht. Die Welle aber nach dem katastrophalen Ende der Gründerjahre machte dann besorgt, zum einen als Abstimmung mit den Füßen gegen die Zustände im Deutschen Reich, dann als Verlust billiger Arbeitskraft für die Industrie und schließlich aus militärischen Gründen. Bismarck versuchte die Notemigration zu ignorieren, indem er die Tatsachen auf den Kopf stellte und behauptete, sie sei im Gegenteil ein Zeichen der Prosperität, weil sich die Leute sonst die Überfahrt gar nicht leisten könnten (Reichstagsrede 8.1.1885)
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Hunderttausende verließen Bismarcks Deutschland Richtung Neue Welt. Wachsende Not verdrängte die Sorgen vor einer Zukunft in der Fremde. Der Stich zeigt wartende Auswanderer am Kai
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(c) akg, Berlin: S.
Kanzler gegen Papst
Der Kulturkampf und seine Folgen (1871–1877)
Rom bestimmte nach der Gründung des Deutschen Reiches (1871) als neuer Kontrahent auch die innenpolitische Partie mit. Der politische Katholizismus hatte sich in der Zentrumspartei, kurz das Zentrum genannt, organisiert. Es verstand sich als Garanten gegen staatlich geförderte Verweltlichung. Ein starkes Reich konnte nicht im Sinne dieser katholischen Partei sein, die für den protestantischen Reichskanzler Bismarck zum Klotz am Bein wurde und die er finsterer Bündnisse mit anderen „Reichsfeinden“ verdächtigte. Seine
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