Deutschland umsonst
Er will unbedingt ein Foto haben, von sich und dem Gewehr, »wie ein richtiger türkischer Mann«. Sein Problem dabei ist, daß er nur auf einem Auge sehen kann. Aber er gibt sein Bestes, preßt das Gewehr an die Backe, konzentriert sich mit aller Kraft, schießt sechzehnmal — leider immer daneben, nur wenige Kugeln treffen überhaupt die Scheibe. Dann ist er pleite. Der Junge weint. Ich frage die Chefin, ob sie dem Kleinen nicht ein Freifoto geben kann, indem sie die Kamera mit der Hand auslöst, schließlich hat er schon ein Vermögen verschossen. »Ich bin Geschäftsfrau«, sagt sie kalt und genießt ihre Allmacht. Ich koche vor Wut. Am liebsten hätte ich ihr sechzehn Kugeln auf den Hintern gebrannt. Nach Dienstschluß bitte ich um meine Entlassung. »Du Hundskerl, du verdammter«, bellt die böse Frau, »pack sofort dei Sach und geh .«
Nach einer klaren Nacht in den Neckarwiesen sitze ich am nächsten Morgen im »Inselcafé« beim Frühstück. Feiner kann man in Heilbronn nicht frühstücken, und fein soll es sein heute morgen, denn ich bin wieder mein eigener Herr, dem Rummel entronnen, habe fünfzehn Mark in der Tasche und fühle mich wie ein König. Das freundliche Serviermädchen mit der adretten, weißen Spitzenschürze bringt mir anstandslos meinen Kaffee. An einem großen Frühstücksbüfett kann ich mich für 13,50 DM nach Belieben bedienen, vom Joghurt »nature« über Cornflakes bis zum Heidehonig ist alles da. Für Feldmann fällt da manches belegte Brötchen unter den Tisch.
Ich bin gerade dabei, mein drittes Frühstücksei zu köpfen, da setzt sich ein hübsches Mädchen mit einem Lächeln an den Nachbartisch, von dem ich annehmen muß, daß es mir gilt. Sofort ist meine innere Zufriedenheit dahin. Mühsam tue ich so, als sei gar nichts gewesen, und löffle mein Ei. Das Mädchen liest ein Buch und trinkt dazu Tee mit Zitrone. Sie hat blondes, nackenlanges Haar und einen für Heilbronner Verhältnisse ziemlich tiefen Ausschnitt. Ob sie von hier ist? Zum Fragen fehlt mir der Mut, aber ihr Lächeln von vorhin läßt mir keine Ruhe. Es hat eindeutig mir gegolten, rede ich mir ein, so etwas kann ich doch nicht einfach auf mir sitzen lassen. Also gehe ich erst mal aufs Klo, um zu sehen, wie sie reagiert. Sie reagiert gar nicht, soweit ich es sehen kann, doch im Nacken meine ich ihren Blick zu spüren. In der Toilette nehme ich mir fest vor, irgendwie mit ihr in Kontakt zu treten, sei es, daß ich um die Uhrzeit bitte oder, besser, um die Adresse von einem billigen Schnellschuster, da wird es sich ja zeigen, ob sie sich in Heilbronn auskennt. Gründlich wasche ich mir die Hände. Der Blick in den Spiegel ist nicht gerade ermutigend.
Mit dem Gefühl, als ginge es in die mündliche Abiturprüfung, kehre ich ins Café zurück, und ein Stein fällt mir vom Herzen: Feldmann hat den Kopf im Schoß des Mädchens und läßt sich wohlig kraulen. »Du bist wohl auch auf dem Weg zum Parteitag der Grünen«, sagt sie lächelnd. Ich verstehe zunächst gar nichts. Wo ist denn hier ein Parteitag der Grünen? »Hier ist keiner, aber in Esseratsweiler bei Lindau, wenn du willst, nehm ich dich mit .« Was wäre schöner, als von dieser Frau nach Esseratsweiler gefahren zu werden! Aber da sind meine Prinzipien, und es dauert noch manche Tasse Kaffee, bis ich meinen ganzen Masochismus zusammengenommen habe, um Angelikas Angebot abzuschlagen. Da ich sie dennoch wiedersehen will, verabrede ich mich mit ihr in einer Woche auf dem Parteitag in Esseratsweiler , die knapp dreihundert Kilometer könnte ich in dieser Zeit schaffen, wenn ich mir, ganz gegen meine sonstigen Wandergewohnheiten, eine genaue Route zurechtlege. In ihrem Autoatlas sehe ich mir den Weg an und schreibe mir die Stationen auf: Marbach, Waiblingen, Plochingen, Dettingen, Lenningen, Münsingen, Uttenweiler, Giesenweiler, Gunzenweiler , Esseratsweiler — das ist leicht zu merken.
Gegen Mittag gehe ich los, erst den Neckar weiter flußaufwärts, biege am nächsten Morgen nach Westen, lasse Stuttgart rechts liegen, schaffe den Aufstieg zur Schwäbischen Alb bis zum Abend, bin zwei Tage drauf an der Donau, obwohl mich eine Bundeswehrstreife auf einem Übungsgelände nördlich von Münsingen festnimmt und einen ganzen Vormittag verhört, eile durch Oberschwaben, gönne mir keine Pause, lasse mich durch kein Gewitter und keine noch so imposante Barockkirche aufhalten, muß in Rötenbach aber etwas verweilen, weil Feldmann dort seine Jungfräulichkeit an eine
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