Deutschlandflug
als dieses vierundachtzigbässige Akkordeon. Einer meinte dann immer, man müsse weitergraben, irgend etwas müsse sich doch finden. Wie solle man ihn sonst begraben? Und man grub weiter und fand den Rest eines Filzstiefels. Darin steckte sinnloserweise ein verkohlter Schenkel; da gehörte doch ein Fuß hinein. Und dann fand man einen zweiten Stiefel; es war nichts drin. Erst als einer schüttelte, war eine knappe Handvoll Asche drin, die sammelte jemand in sein Taschentuch.
Man müsse etwas Greifbares finden, meinte einer der Grabenden, aber man fand nur das Gehäuse eines Höhenmessers. Da sei etwas drin, meinte einer und kratzte eine weiche, blasse Masse heraus. Sie war grau und roch verkohlt. Aber es hing ein winziger Stirnlappen daran; und so wußten sie, daß es Gehirnmasse war.
Die taten sie dann zu dem Schenkelstiefel und der Asche; und so lag es später im Sarg, einsam und winzig in dem gewaltigen Sarg; und das Ehrenpeleton feuerte seine Salven wie bei einem richtigen Begräbnis. Und der Pfarrer sprach seinen Segen wie bei einem richtigen Toten. Und alle blickten ernst und feierlich, als würde wirklich jemand begraben.
Schließlich hatte man lange genug gesucht. Ein Mensch konnte doch nicht so einfach vom Erdboden verschwinden; sein Gehirn hatte ›Hölderlin‹ gedacht und ›Abendessen‹ und ›Heimaturlaub‹ und ›Brigitte‹. Und seinen Körper hatte er jahrelang sorgfältig gepflegt mit Chlorodont und 4711-Seife und Hornkamm und Nagelbürste; und allen war hübsch scheußlich zumute.
»Nein. Keine besonderen Vorkommnisse!« hörte er Mahlberg melden und schrak auf. »Aber allmählich müssen wir runter! Wir können hier nicht ewig kreisen! Wie wär's, ihr verhandelt mit Houston, damit die uns in eine Satellitenumlaufbahn schießen? Dann könnt ihr monatelang in aller Ruhe eure müden Gehirne strapazieren!«
Er überdachte seine Pflichten als Kommandant. Angenommen, man würde, durch eine Bombendetonation nur schwer beschädigt, aber noch flugfähig, eine Notlandung vornehmen. Was wäre bei der Evakuierung zu beachten?
Vier Türen auf jeder Seite. Vom Bug zum Heck: 1 L und 1 R, 2 L und 2 R, 3 L und 3 R, 4 L und 4 R. An jeder Tür eine Stewardeß als Cabin-Attendant, C/A, postiert. Sie saß auf einer sogenannten Crew-Station, unter deren Sitz eine Fülle von Notgeräten, sogenanntes Emergency-Equipment, verpackt war: Kinderschwimmwesten, Feuerlöscher, Notbeile, Survival-Kits, Erste-Hilfe-Koffer. Bei einer Notwasserung mußten Survival-Kits und Erste-Hilfe-Koffer mit ins Boot genommen werden.
Bei der DC-10 erfüllte die Notrutsche gleichzeitig die Funktion eines Schlauchboots. Bei einer Katastrophe mußten über 200 Passagiere innerhalb von 90 Sekunden über die Notrutschen evakuiert werden können. Sie waren in den Türen verstaut und bliesen sich automatisch auf, wenn man die Tür öffnete. Damit bei einem normalen Türöffnen zum normalen Aussteigen die Rutschen nicht ausfuhren, hatten die Türbedienungshebel zwei Positionen: ›Notrutsche armiert. Notrutsche nicht armiert‹. Vergaß eine Stewardeß, vor dem Aussteigen den Hebel auf ›nicht armiert‹ zu stellen, knallte die Rutsche hinaus.
Alle Besatzungsmitglieder mußten jährlich einmal eine Notschulung mit Rutschen durchführen. Dabei hatte es beim Abseilen aus dem Cockpit oder beim falschen Hineinspringen in die Rutschen mehrfach Verletzte gegeben. Verletzte, die man jederzeit in Kauf nahm, um für den Notfall gerüstet zu sein.
Bloch hatte sogar eine Demonstrationsevakuierung mit ›echten‹, nicht vortrainierten Passagieren mitgemacht. Das gesamte Fernsehen vom ZDF und Hessen 3 war aufgefahren, um das nicht alltägliche Event auf Film zu bannen. Ja, Bloch, der langbärtige Reporter nicht ausstehen konnte, erinnerte sich, daß immer nur vom Eventstatt von einem simplen Ereignis die Rede war. Am auffälligsten hatte sich ein zweiundachtzigjähriger Opa genommen, der gar nicht oft genug mit einem Riesensprung in die Rutsche jumpen konnte, während sich zarte, halbseidene Jünglinge zierten. Immerhin, die internationalen Sicherheitsbestimmungen wurden eindruckweckend erfüllt: Innerhalb von 72 Sekunden war auch die letzte Oma von Bord.
Freilich: Bei einer solchen Demonstration wußte jeder, daß es sich um eine Demonstration handelte. Kein Feuer in der Kabine versetzte die Springenden in Panik, keine Toten blockierten die Ausgänge.
Aus Life- Filmen, die nur den alten Hasen gezeigt wurden, wußte Bloch: Nichts wirkte sich
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