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Dexter

Dexter

Titel: Dexter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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Farben waren verblichen, Zeit und Witterung hatten den Papagei von seiner Schulter geraubt, und sein erhobenes Schwert hatte eine Hälfte eingebüßt, doch trug er noch immer seine Augenklappe, und in seinem verbleibenden Auge blitzte nach wie vor ein verruchtes Funkeln. Ich stieg aus und betrachtete meinen alten Freund. Als Kind hatte ich stets eine besondere Verbundenheit zu Roger gespürt, der immerhin Pirat war, was bedeutete, dass er in einem großen Segelschiff herumfahren und jeden x-Beliebigen abschlachten durfte, wann immer ihm danach war, was mir damals als ideale Lebensform erschien.
    Erneut in seinem Schatten zu stehen und mich zu erinnern, wie der Ort damals ausgesehen und was Roger mir bedeutet hatte, war außerordentlich seltsam. Ich spürte, dass ich ihm eine Art Tribut schuldete, trotz seines verwahrlosten Zustands. Deshalb starrte ich einen Moment zu ihm hoch und sagte dann: » AAAARGH !« Er antwortete nicht, aber Debs sah mich merkwürdig an.
    Ich überließ Roger sich selbst und spähte durch den Maschendrahtzaun, der den Freizeitpark umgab. Die Sonne ging gerade unter, und im letzten Tageslicht konnte man nicht viel erkennen; die Ansammlung von Buden und Fahrgeschäften, an die ich mich erinnerte, nun baufällig und nach so vielen Jahren unter der grausamen Sonne Floridas verblichen. Darüber ragte der hohe und äußerst unpiratische Turm auf, den man Großmast getauft hatte. Er hatte sechs lange Stahlarme, an deren Enden vergitterte Kabinen baumelten. Trotz der ganzen Schilder und Flaggen, mit denen er geschmückt war, hatte ich nie begriffen, was das mit Freibeutern zu tun hatte, doch als ich Harry danach fragte, tätschelte er mir nur die Schulter und sagte, so wäre das Geschäft eben. Wie auch immer, es hatte stets viel Spaß gemacht, damit zu fahren, und wenn man damals hoch oben in der Kabine ein Auge zukniff und »Johoho« murmelte, konnte man fast vergessen, dass das Ding so modern aussah.
    Nun schien sich der Turm leicht zu einer Seite zu neigen, und bis auf eine waren sämtliche Kabinen verschwunden oder demoliert, doch da ich ohnehin nicht vorhatte, eine Fahrt zu riskieren, schien es nicht weiter von Bedeutung.
    Von meiner Stelle am Zaun konnte ich nicht wesentlich mehr vom Park sehen, aber da ich nichts anderes zu tun hatte, als auf Chutsky zu warten, überließ ich mich meinen Erinnerungen. Ich fragte mich, ob wohl noch Wasser durch den künstlich angelegten Fluss lief, der sich durch den Park schlängelte. Auf diesem Fluss hatte ein Piratenschiff gelegen, die Freude und der Stolz von Roger dem Piraten: das verruchte Schiff
Vengeance.
Aus den Seiten hatten echte Kanonen geragt, die man tatsächlich abfeuern konnte. Außerdem gab es noch eins dieser Fahrgeschäfte, bei denen man in einem künstlichen Einbaum sitzt und einen Wasserfall hinunterstürzt. Dahinter, auf der anderen Seite des Geländes, war das Steeplechase. Ebenso wie beim Turm hatte ich nie begriffen, was ein Pferderennen mit Piraten zu tun hatte, aber es war Deborahs Lieblingsattraktion gewesen. Ich fragte mich, ob sie wohl gerade daran dachte.
    Ich betrachtete meine Schwester. Sie lief vor dem Tor auf und ab, musterte abwechselnd Straße und Park, blieb stehen, verschränkte die Arme und nahm dann ihr Hin- und Herlaufen wieder auf. Sie platzte beinah vor nervöser Erwartung, und ich beschloss, dass dies ein guter Moment war, um sie mit gemeinsamen Familienerinnerungen ein wenig zu beruhigen, weshalb ich sie ansprach, als sie das nächste Mal an mir vorbeistapfte.
    »Deborah?«, sagte ich, und sie wirbelte herum.
    »Was ist?«, herrschte sie mich an.
    »Erinnerst du dich noch an das Pferderennen? Du hast das damals geliebt.«
    Sie starrte mich an, als hätte ich sie gebeten, vom Turm zu springen. »Himmel! Wir sind doch nicht hier, um in blöden Kindheitserinnerungen zu schwelgen.« Damit wirbelte sie zurück.
    Anscheinend war meine Schwester nicht ganz so überwältigt von liebevollen Erinnerungen. Ich fragte mich, ob sie immer weniger menschlich wurde, während meine Menschlichkeit zunahm. Aber da sie in letzter Zeit häufig launenhaft war, ein zutiefst menschliches Verhalten, schien der Gedanke eher unwahrscheinlich. In jedem Fall fand Deborah es wesentlich unterhaltsamer, zähneknirschend auf und ab zu laufen, als mit mir fröhliche Anekdoten über unsere Kindheitsabenteuer in Buccaneer Land auszutauschen. Deshalb ließ ich sie in Ruhe herumstapfen und spähte weiter durch den Zaun, bis fünf lange Minuten später

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