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Dexter

Dexter

Titel: Dexter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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erneut vollkommen verlassen. Schräg links vor mir stand ein Gebäude, das ich aus meiner Kindheit kannte. Ich war damals einige langweilige und verwirrte Stunden hindurchgewandert, während mich die Frage beschäftigte, was daran gruselig sein sollte. Aber wenn es mir heute Deckung schenkte, würde ich ihm seinen irreführenden Namen vergeben. Mit einem letzten Blick auf die noch immer nicht besetzte Kabine rollte ich mich vom Karussell und rannte zum Gruselkabinett.
    Das Äußere des Gebäudes befand sich in sehr schlechtem Zustand, und nur noch wenige undeutliche Umrisse erinnerten an die Wandmalereien, die es einst geschmückt hatten. Mit Mühe erkannte ich eine Szene voll fröhlicher Piraten, die eine kleine Stadt brandschatzten und plünderten. Dieser Verlust war ein schwerer Schlag für die Kunstwelt, aber momentan nicht mein Hauptproblem. Vor dem Gruselkabinett leuchtete ein schwaches Licht, weshalb ich mich halb kriechend und jeden Schatten nutzend zur Rückseite begab. Mein Weg führte mich noch weiter von der Stelle fort, an der ich Deborah zum letzten Mal gesehen hatte, aber ich brauchte ein neues Versteck. Wer immer in der Seilbahn gewesen war, hatte mich in dem Karussell mit Sicherheit bemerkt, weshalb ich mich so weit wie möglich davon entfernen musste.
    Vorsichtig schlich ich zur Rückseite des Gruselkabinetts. Die Hintertür hing nur noch an einer Angel, und auf dem Schild darüber verkündeten verblasste rote Buchstaben OTAUSGA . Ich blieb mit gezückter Waffe stehen, obwohl ich eigentlich nicht glaubte, dass sich dort drin zwischen den alten Spiegeln jemand verbarg. Das wäre arg klischeehaft gewesen, und bestimmt hatten auch Kannibalen ihren Stolz? Abgesehen davon hatten die Spiegel selbst in ihrer besten Zeit niemanden zum Narren gehalten. Nach den Jahren der Vernachlässigung waren sie gewiss so stumpf wie meine Schuhsohle. Dennoch ging ich kein Risiko ein; ich schlich gebückt durch die Tür und zielte mit der Waffe ins Innere des Gruselkabinetts. Niemand lauerte, nichts regte sich, und ich glitt in die Schatten.
    An der nächsten Ecke blieb ich erneut stehen und spähte vorsichtig umher – noch immer nichts. Bestand die Möglichkeit, dass ich gar nicht verfolgt wurde? Ich erinnerte mich daran, dass meine Adoptivmutter Doris häufig eine Bibelstelle zitiert hatte:
Der Gottlose flieht, auch wenn niemand ihn jagt.
In meinem Fall sicherlich zutreffend. Ich verbrachte viel zu viel Zeit auf der Flucht, obwohl mich bis jetzt niemand gejagt hatte. Doch wusste ich mit absoluter Gewissheit, dass sie im Park waren, und die einzig vernünftige Reaktion darauf lautete, um mein Leben zu rennen – doch wusste ich ebenso, dass meine Schwester den Park niemals ohne Samantha Aldovar und Bobby Acosta verlassen würde, und ich durfte sie nicht im Stich lassen.
    Der Passagier murrte unwillig und ließ mich den eisigen Hauch seiner ledrigen Schwingen spüren, und die sehr leise Stimme der Vernunft und des gesunden Menschenverstands stellte sich auf die Zehenspitzen und brüllte mich an, zum Ausgang zu rennen – aber ich konnte nicht. Nicht ohne Deborah.
    Und so holte ich tief Luft, wobei ich mich fragte, wie oft ich das wohl noch tun konnte, und huschte in die nächste unsichere Deckung, früher ein Karussell für kleine Kinder: geschlossene Autos, die langsam im Kreis fuhren und in denen man an einem großen Lenkrad kurbeln konnte. Nur zwei dieser Autos existierten noch, und beide waren in einem erbärmlichen Zustand. Ich huschte in das blaue und verkroch mich dort für einen Moment. Die feiernde Piratenbande war komplett verschwunden, und man sah und hörte nichts von irgendjemandem, der meine krabbenähnlichen Fortschritte verfolgt hätte. Ich hätte genauso gut eine Marschkapelle durch den Park führen und mit Gürteltieren jonglieren können, niemand hätte mich bemerkt.
    Doch früher oder später würden wir aufeinandertreffen, und angesichts der Gesamtsituation wäre mir sehr recht, die anderen zuerst zu sehen. Deshalb kauerte ich mich hin und spähte unter dem Boden des Kinderautos hindurch.
    Vor mir lag der künstliche Fluss, in dem früher das Piratenschiff gekreuzt hatte. Er führte noch immer recht viel Wasser, obgleich die Färbung ein wenig ungesund wirkte. Nach Jahren der Vernachlässigung schien das Wasser trüb und giftig grün. Zwischen mir und dem Fluss standen drei der Seilbahnpfeiler. An jedem hingen Lampen, doch nur eine funktionierte. Und zwar rechts von mir, in der Richtung, in der

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