Dezembergeheimnis
bewegten. Und ehe sie es sich versah, hatte er auch schon wieder abgesetzt und das Glas auf dem Tisch abgestellt.
»Und? Irgendwelche Veränderungen?«
Er betrachtete seine Handinnenflächen, ehe er die Hände drehte und sie von allen Seiten begutachtete. »Nichts. Ich fühle mich kein bisschen anders.«
»Vielleicht war es zu wenig?« Kaum hatten die Worte Leas Mund verlassen, hätte sie sie am liebsten wieder eingesaugt. War ja klar; kaum war die Gefahr abgewendet, warf sie ihre Angel aus und zog sie wieder an Land. Und Noel stieg auch prompt drauf ein.
»Du hast vollkommen Recht. Es schmeckt nebenbei gesagt auch wirklich sehr interessant.« Das Glas wieder in der Hand, blickte er noch mal zu ihr und sah die Sorge in ihrem Gesicht. Er lachte. »Lea, du musst ein wenig neugieriger werden. Ich habe mich heute lange mit Paul unterhalten und wenn wir zu einem Schluss gekommen sind, dann, dass man in seinem Leben Chancen nutzen muss.«
Damit trank er den Wein in einem Zug aus, während Leas Augen immer größer wurden.
»Über was habt ihr noch gesprochen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Viele unterschiedliche Dinge. Er hat ein paar Anekdoten von seinem Job erzählt. Er ist Physiotherapeut, wusstest du das?«
Nein. Und Lea wusste auch nicht, dass er das Wort
Anekdote
kannte. Aber er war auf das Ereignisfeld gerückt und hatte ihre Vorsichtskarte gezogen. »Habt ihr euch auch … über uns unterhalten?«
Sie kaute auf der Unterlippe und hatte das dringende Bedürfnis, selbst noch etwas zu trinken. Doch da sie sich den peinlichen Moment, Noel das Glas aus der Hand zu schnappen, ersparen wollte, beließ sie es bei dem Gedanken. Stattdessen beobachtete sie, wie er sich mit der Hand durch die Haare fuhr.
»Nun ja, ja natürlich. Das ist auch ein Thema gewesen. Wir … oh.«
»Was?«
Er stand auf, stellte das Glas ab und betrachtete erneut seine Hände. Er schob die Brust nach vorne und blickte an sich hinunter. »Ich fühl mich … anders.«
Sofort in Alarmbereitschaft schoss Lea nach oben, aber er bedeutete ihr, sitzen zu bleiben. »Wie anders? Komisch? Tut dir wieder irgendwas weh?«
»Nein.« Er sagte es voller Bewunderung, während er anfing, sich den Oberkörper abzutasten. Ihr entging dabei nicht, wie gut das rote Shirt sich an seinen Rumpf schmiegte. »Es fühlt sich gut an. Als wäre ich stärker … als wäre da eine völlig neue Energie in mir. Was hast du noch mal genau gesagt, was Alkohol bewirkt?«
Mit einem Anflug von neugeborenem Elan setzte er sich vor sie und starrte sie aus diesen übereuphorischen Augen an.
»Ähm«, stotterte Lea, »Das ist bei jedem unterschiedlich. Manche werden ganz still und müde und andere total wach und aufgedreht.«
»Dann bin ich definitiv der zweite Typ. Was noch?«
»Uh.« Sie starrte auf die Hände, die mit den Bändern ihrer Haushose spielten. »Alkohol lässt bestimmte Körperfunktionen aussetzen.«
»Aussetzen?« Er hob eine Augenbraue und sah sie an, als würde bei ihm alles passieren, außer dass irgendwas aussetzte.
»Ja, also, der Orientierungssinn zum Beispiel, man hat Probleme mit dem Gleichgewicht.«
Er schmunzelte. »Ach, deswegen bist du heute noch tollpatschiger.«
Lea steckte ihm die Zunge raus. Doch er sprang auf, drehte sich einmal im Kreis und kam mit geöffneten Armen wieder zum Stehen. »Nichts, siehst du? Gleichgewichtssinn noch vollständig aktiv.«
»Und mit der Sprache, merkst du da irgendwas? Wenn ich viel trinke, ist es, als ob meine Zunge taub wird. Dann kriege ich kaum einen vernünftigen Satz über die Lippen.«
Er ließ sich wieder seitwärts auf das Sofa fallen, damit er sie richtig ansehen konnte, und lehnte einen Arm über die Lehne. »Ich spüre nichts. Nur diese merkwürdige Energie. Ich rede doch noch ganz normal, oder?«
Lea kam es so vor, als könnte sie nichts anderes tun, als ihn anzustarren. Vielleicht lag es daran, dass Alkohol bei ihr eher das Gegenteil bewirkte und ihren Sinnen sämtliche Energie raubte, sodass es ihr vorkam, als würde sie von seinen schnellen Bewegungen noch ein Schleudertrauma kriegen.
Und sie konnte den Blick nicht von seinem Mund losreißen. Er war selbst Schuld; er hatte ihre Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt und nun schien es außerhalb ihrer Macht zu stehen, die Augen abzuwenden. Seine Lippen formten sich zu einem Lächeln und sahen dabei irgendwie perfekt aus.
»Ja«, antwortete sie langsam. »Ganz normal. Was ist mit deiner Sicht? Schlägt da schon irgendwas an? Alkohol
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