Dhalgren
über den Tod nach. Ist dir das auch schon passiert? Du gehst über eine Straße oder sitzt in einem Zimmer oder liegst im Gras oder sprichst auch zu Leuten, und plötzlich kommt der Gedanke - und wenn er kommt, dringt es überallhin wie eine Zeitrafferaufnahme über die Entstehung von Kristallen oder wie sich eine Blüte öffnet: >Ich werde sterben<. Eines Tages werde ich irgendwo sterben und fünf Sekunden danach werde ich tot sein. Und wenn es kommt, kommt es« - er klatschte die Handflächen so laut zusammen, daß sie zusammenfuhr -. »so! Und du weißt es, kennst deinen eigenen Tod, eine ganze Sekunde, drei Sekunden, vielleicht fünf oder zehn . . . bevor der Gedanke wieder verschwindet und du dich nur noch an die Worte erinnerst, die du gemurmelt hast: >Eines Tages werde ich sterben< , was aber nicht den Gedanken ausdrückt, sondern nur die Asche.«
»Ja ... ja das ist mir auch schon passiert.«
»Und ich glaube, all die Häuser und Brücken und Flugzeuge und Bücher und Symphonien und Raumschiffe und Unterseeboote und . . . und Gedichte: Es gibt sie nur, um die Gedanken der Leute abzulenken, damit das nicht wieder passiert.« Nach einer Weile sagte er: »George Harrison . . .«
Sie sagte: »June Richards . . .« und blickte ihn an. Als er nicht antwortete, sagte sie: »Ich habe dieses Bild vor Augen, wie wir eines abends in die Bar gehen und du sagst: >Hey Mann komm mit mir. Ich möchte, daß du einen Freund kennenlernst< und George sagt: >Ja, klar!< - und er würde es wahrscheinlich auch tun. Er weiß, wie klein die Welt ist, für die er den Mond spielt. Und du nimmst ihn mit in all seiner großen, schwarzen Schönheit zu diesem rosa Ziegelhochhaus mit den zerbrochenen Fenstern, und du schnappst dir dieses irre zuckersüße Püppchen und sagst: >Hey, Lady. Hier ist Mr. Mitternacht persönlich. June, das ist George, George, das ist June.< Ich frage mich, über was sie reden - auf ihrem Territorium?«
Er lachte leise. »Oh, ich weiß nicht. Vielleicht sagt er sogar: Danke schön. Schließlich hat sie ihn zu dem gemacht, was er heute ist.« Er zwinkerte durch die Blätter. »Leben ist schon faszinierend, so wie alles zusammenhängt, Farben, Formen, Wasserteiche mit Blättern darauf, Spiegelbilder auf Fensterscheiben, Sonnenlicht, wo Sonne ist, wolkiges, wo Wolken sind! Und jetzt bin ich da, wo sich der Nebel um Mitternacht verzieht, und George und der Mond scheinen. Vielleicht sehe ich zwei Schatten anstatt nur einen!« Er streckte die Hände hinter sich auf der Decke aus. Sie schlugen auf etwas - das war seine Orchidee, die über das Notizbuch rollte.
»Als ich auf der Kunstschule war«, sagte sie, »hatte ich einen Lehrer, der sagte, daß man nur an solchen Tagen die richtige Qualität von Farben erkennen kann. Die ganze Stadt Bellona liegt unter ständigem Nordlicht.«
»Mmmrn«, sagte er.
Welcher Teil in mir zögert, meinen eigenen Worten zu lauschen? Ich liege starr in einem starren Kreis. Es blickt mich von diametralen Punkten aus an, ohne Sexualität und weise. Wir liegen in einer starren Stadt, denken an Winde. Es kreist mich ein, und verrät mir nur durch die Position, daß es mehr weiß, als ich will. Da, es macht eine zu maskuline Geste vor ekstatischer Szenerie. Hier läßt es an Feminität denken, hält bei geronnenem Blut und Knochen inne. Es zittert und stammelt angesichts von Liebe. Es beugt einen stumpfen, murmelnden Kopf vor der Ungerechtigkeit, Wut oder seiner Ignoranz. Und doch bin ich überzeugt, daß es sich bei einem ordentlichen Schock umwenden und mich rufen würde, mit jenen hermetischen Silben, die ich auf den Uberresten eines gebrochenen Bewußtseins zurückgelassen habe, auf den Flügeln verkohlter Gedanken, am Eingang in die Ganglienstadt. Und ich werde den Kopf heben.
»Du . . .«, sagte er plötzlich. Es war dunkel. »Bist du glücklich? Ich meine, daß du so lebst?«
»Ich?« Sie holte tief Luft. »Laß mal sehen . . . bevor ich herkam habe ich kantonesische Kinder, die gerade in New Yorks Chinatown angekommen waren, in Englisch unterrichtet. Davor habe ich einen Pornobuchladen auf der 42. Straße geleitet. Und davor war ich eine Zeitlang Band-Cutterin bei der WBAI, FM in New York. Und davor hatte ich einen Teilzeitjob bei der Schwesterstation KPFA in Berkeley, Californien. Kinder, ich finde es hier so langweilig, daß ich, glaube ich, seit ich hier bin, alle drei Minuten mit einen erstaunlichen Akt von Gewalt konfrontiert wurde.« Plötzlich rollte sie im Dunkeln gegen
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