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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Schritte entgegen.
    »Hüten Sie sich vor diesem Mann«, sagte O-Yumi rasch und wies mit dem Kinn in die Richtung, in die der Kapitänleutnant gefahren war. »Ich weiß nicht, wer er ist, aber ich sehe: Er gibt sich als Ihr Freund aus, legt Ihnen den Arm um die Schulter, wünscht Ihnen aber in Wirklichkeit nur Böses. Heute hat er eine Denunziation gegen Sie verfaßt oder wird es noch tun.«
    Dann wollte sie wieder gehen, doch Fandorin stellte sich ihr in den Weg. Aus dem vergitterten Fenster des Polizeireviers beobachteten zwei vom Alkohol gezeichnete bärtige Männer die Szene neugierig. Auch der am Eingang stehende Constable schaute grinsend zu.
    »Sie lieben es, effektvoll zu verschwinden, aber diesmal v-verlange ich eine Antwort. Was soll der Unsinn mit der D-denunziation? Wer hat Ihnen das erzählt?«
    »Sein Gesicht. Genauer gesagt, die Falte im rechten Augenwinkel und die Form und Farbe seiner Lippen.« O-Yumi lächelte leicht. »Sie müssen mich nicht so ansehen, ich scherze nicht und will Sie nicht verwirren. Das ist Ninso, eine alte japanische Kunst, mit deren Hilfe man in menschlichen Gesichtern lesen kann wie in einem offenen Buch. Diese Kunst beherrschen nur wenige, aber in unserer Familie ist sie seit zweihundert Jahren überliefert.«
    Vor seiner Ankunft in Japan hätte Fandorin über derartige Märchen natürlich gelacht, aber inzwischen wußte er, daß es in diesem Land eine Unzahl der erstaunlichsten »Künste« gab, darum lachte er nicht, sondern fragte nur: »In einem Gesicht lesen wie in einem Buch? Eine Art Physiognomistik?«
    »Ja, nur viel umfassender und detaillierter. Ein Ninso-Meister kann Kopfform, Körperbau, Gang und Stimme deuten – kurz,alles, was ein Mensch der Umwelt über sich mitteilt. Wir unterscheiden einhundertvierzig Schattierungen der Hautfarbe, zweihundertzwölf Typen von Falten, zweiunddreißig Gerüche und vieles, vieles mehr. Ich habe es noch lange nicht zu der Meisterschaft meines Vaters gebracht, aber ich kann Alter, Gedanken, die kürzliche Vergangenheit und die nächste Zukunft eines Menschen genau bestimmen …«
    Als sie auch die Zukunft erwähnte, begriff Fandorin, daß er veralbert wurde. Und er hätte ihr beinahe geglaubt!
    »Nun, was habe ich denn heute getan? Oder nein, bestimmen Sie lieber, woran ich gedacht habe!« Er lächelte ironisch.
    »Heute morgen tat Ihnen der Kopf weh, hier.« Ihre federleichten Finger berührten seine Schläfe, und Fandorin zuckte zusammen – vor Erstaunen (mit den Kopfschmerzen hatte sie recht) oder wegen der Berührung selbst. »Traurige Gedanken überkamen Sie. Das widerfährt Ihnen morgens häufig. Sie dachten an eine Frau, die nicht mehr lebt. Außerdem dachten Sie an eine Frau, die lebt. Sie malten sich alle möglichen Dinge aus, von denen Ihnen heiß wurde.«
    Fandorin wurde rot, die Zauberin aber lächelte und sprach nicht weiter.
    »Das ist keine Hexerei«, sagte sie nun ernst. »Nur die Frucht jahrhundertelanger Beobachtungen sehr aufmerksamer Menschen, die sich auf ihr Handwerk konzentrierten. Die rechte Gesichtshälfte, das sind Sie selbst, die linke Hälfte sind die Menschen, mit denen Sie verbunden sind. Sehe ich zum Beispiel an der rechten Schläfe einen kleinen Pickel in der Farbe Insoku, weiß ich, dieser Mensch ist verliebt. Hat er dagegen einen solchen Pickel an der linken Schläfe, ist jemand in ihn verliebt.«
    »Ach, Sie machen sich doch über mich lustig!«
    O-Yumi schüttelte den Kopf.
    »Die jüngste Vergangenheit erkennt man an den unteren Augenlidern. Die nächste Zukunft an den oberen. Erlauben Sie?«
    Die weißen Finger berührten sein Gesicht. Sie fuhren über die Brauen, kitzelten seine Wimpern. Fandorin spürte, wie er erstarrte.
    Plötzlich wich O-Yumi zurück. Sie blickte ihn voller Angst an.
    »Was … Was ist denn?« fragte er heiser – sein Mund war unversehens ganz trocken.
    »Sie werden heute einen Menschen töten!« flüsterte sie erschrocken, drehte sich um und lief über den Platz.
    Er wäre ihr beinahe nachgerannt, beherrschte sich aber rechtzeitig. Mehr noch, er wandte sich sogar um und nahm eine dünne Manila aus seinem Zigarrenetui. Erst beim vierten Streichholz brannte sie.
    Fandorin zitterte regelrecht – vermutlich vor Wut.
    »Diese segelohrige K-kokotte!« zischte er. »Aber ich bin auch gut! Mich so einwickeln zu lassen!«
    Doch was half es, sich etwas vorzumachen? Eine beeindruckende Frau! Aber vielleicht liegt es gar nicht an ihr, durchfuhr es Fandorin plötzlich. Zwischen uns

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