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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Irisduft und seine nächtliche Vision.
     
    Die überschwemmten Felder blinkten in der Sonne, als sei die ganze Ebene ein großer geborstener Spiegel. Die schwarzen Risse auf der glänzenden Oberfläche waren die Grenzraine, die das Feld in kleine Vierecke teilten, und auf jedem davon wuselte eine tief gebückte Gestalt mit Strohhut herum. Die Bauern jäteten die Reisfelder.
    Inmitten der Felder erhob sich ein kleiner bewaldeter Hügel, gekrönt von einem roten Dach mit gebogenen Rändern. Fandorin wußte bereits, daß dies ein verlassener Shinto-Tempel war.
    »Die Bauern besuchen ihn nicht mehr«, sagte Shirota. »Er ist unrein. Letztes Jahr wurde vor dem Eingang ein toter Landstreicher gefunden. Klug von Semushi, sich an einem solchen Ort zu verstecken. Ein geeigneter Zufluchtsort für einen schlechten Menschen. Und alle Zugänge sind gut einzusehen.«
    »Und was wird mit dem Tempel geschehen?«
    »Entweder er wird verbrannt und ein neuer gebaut, oder es wird eine Reinigungszeremonie durchgeführt. Das haben der Dorfälteste und der Kannushi, der Priester, noch nicht entschieden.«
    Über die Felder führte eine schmaler Erdwall zum Tempel, höchstens fünf Schritt breit. Fandorin betrachtete aufmerksam den Weg zum Tempel, dann die moosbewachsenen Stufen, die zu einem seltsamen roten Holztor führten. Es hatte die Form eines großen U. Es gab keine Torflügel und keinen Zaun. Ein Tor, das nichts abriegelte.
    »Das ist das Torii«, erklärte Shirota, »Das Tor zur Anderen Welt.«
    Ach so, na dann …
    Fandorins Fernglas war ausgezeichnet, mit zwölffacher Vergrößerung – ein Andenken an die Belagerung von Plewna.
    »Ich sehe Masa nicht«, sagte Fandorin. »Wo ist er?«
    »Sie schauen in die falsche Richtung. Ihr Diener ist dort drüben, auf dem Gemeindefeld. Weiter links, noch weiter.«
    Der Vizekonsul und sein Assistent lagen im dichten Gras am Rand eines Reisfelds. Nun erblickte Fandorin Masa in seinem Doppelglas. Der sah genauso aus wie die Bauern: bis auf einen Lendenschurz nackt, auf dem Rücken ein Fächer. Nur seine Hüften waren vielleicht ein wenig runder.
    Jetzt richtete sich der rundhüftige Bauer auf, fächelte sich Luftzu und schaute sich zum Dorf um. Genau, das war er: Pausbacken und zusammengekniffene Augen. Er schien so nah, daß Fandorin ihm einen Nasenstüber hätte versetzen können.
    »Er ist seit dem Morgen hier. Hat sich für zehn Sen als Tagelöhner verdingt. Wir haben verabredet, sobald er etwas Besonderes bemerkt, hängt er sich den Fächer auf den Rücken. Sehen Sie, der Fächer hängt auf dem Rücken. Er hat etwas bemerkt!«
    Fandorin richtete das Fernglas wieder auf den Hügel. Ganz langsam, Quadrat für Quadrat, musterte er das Versteck des Buckligen.
    »Er ist aus Yokohama gleich hierher gegangen? Und unterwegs n-nirgendwo abgebogen?«
    »Nein, gleich hierher.«
    Was war das Weiße dort zwischen den Zweigen?
    Fandorin stellte schärfer und stieß einen Pfiff aus. Auf dem Baum saß jemand. Der Bucklige? Was machte er dort?
    Aber Semushi hatte in der Nacht keinen weißen Kimono getragen, sondern einen dunkelbraunen.
    Die Gestalt auf dem Baum wandte den Kopf. Das Gesicht war nicht zu erkennen, nur ein kahlrasierter Scheitel.
    Nein, das war nicht Semushi! Dessen Haar war kurzgeschoren.
    Fandorin schwenkte das Fernglas weiter. Plötzlich blitzte im Dickicht etwas auf. Dann noch einmal und noch einmal.
    Er stellte schärfer.
    Oho!
    Auf einer kleinen Freifläche stand ein Mann im Kimono mit gerafftem Saum. Völlig reglos, ein Schwert in der Hand. Neben ihm steckte ein Bambusstab in der Erde.
    Plötzlich bewegte sich der Mann. Beine und Rumpf rührten sich nicht, aber das Schwert sprühte Funken, und von dem Stab flogen abgehackte Scheibchen: eins, zwei, drei, vier! Was für eine Geschicklichkeit!
    Dann drehte sich der Wunderfechter zur anderen Seite – dortsteckte offenbar ein weiterer Stab. Aber Fandorin schaute nicht mehr auf die Klinge, sondern auf den linken Kimonoärmel. Er war zerknüllt oder eingekrempelt.
    »Warum haben Sie mit der Faust auf den Boden geschlagen? Haben Sie etwas entdeckt?« flüsterte Shirota ihm kampfeslustig ins Ohr.
    Fandorin reichte ihm das Fernglas und zeigte ihm, wohin er blicken mußte.
    »Kataúde!« rief der Schreiber. »Der Krüppelarm! Also sind auch die anderen dort!«
    Der Vizekonsul hörte nicht hin – er kritzelte rasch etwas in sein Notizbuch, riß die Seite heraus und beschrieb eine zweite.
    »Folgendes, Shirota. Im Laufschritt zum Settlement.

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