Diamantene Kutsche
jemand ans Fenster klopfte, offenbar schon seit einer ganzen Weile, Fandorin hatte es nur nicht gehört.
»Sir, Sir«, sagte eine Stimme, »wir sind da. Sie sollten noch was drauflegen, für die Angst.«
Der Vizekonsul öffnete die Tür einen Spalt und reichte einen Silberdollar hinaus.
»Hier, für Sie. Einen Augenblick noch.«
Dann ordnete er notdürftig seine Kleider.
»Der arme Aldgie«, seufzte O-Yumi. »Ich wollte ihn nach allen Regeln der Kunst verlassen. Das hast du verdorben. Nun werden Kummer und Haß sein Herz erfüllen. Aber das macht nichts.Ich schwöre, zwischen uns beiden wird es ein schönes Ende geben, ganz nach den Regeln des Jojutsu. Du wirst mich sehr, sehr lange in guter Erinnerung behalten, wir trennen uns nach dem Muster ›Herbstblatt‹«.
Das Allerschönste
Schenkt dir der Baum zum Abschied:
Das letzte Herbstblatt.
Irrsinniges Glück
»Du hast mich in jener Nacht also nur deshalb abgewiesen, weil du dich von dem ›armen Aldgie‹ nach allen Regeln der Kunst trennen wolltest?« Fandorin sah sie ungläubig an. »Nur deshalb?«
»Nicht nur. Ich habe wirklich Angst vor ihm. Ist dir sein linkes Ohrläppchen aufgefallen?«
»Was?« Fandorin meinte sich verhört zu haben. »Form, Länge und Farbe seines Ohrläppchens verraten, daß er ein sehr gefährlicher Mann ist.«
»Schon wieder dein Ninso! Du machst dich über mich lustig!« »Ich habe in seinem Gesicht acht Tote gelesen«, sagte sie leise. »Und das sind nur die, die er eigenhändig getötet hat.«
Fandorin wußte nicht, ob sie das ernst meinte oder ihn veralberte. Nein, anders: Er war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn veralberte. Darum fragte er spöttisch: »Du kannst Tote aus dem Gesicht lesen?«
»Selbstverständlich. Jedesmal, wenn ein Mensch einem anderen das Leben nimmt, hinterläßt das eine Narbe auf seiner Seele. Und alles, was in der Seele geschieht, spiegelt sich im Gesicht. Auch du trägst solche Spuren. Soll ich dir sagen, wie viele Menschen du getötet hast?« Sie streckte die Hand aus und berührte seine Wangenknochen. »Eins, zwei, drei …«
»Hör auf!« Er wich zurück. »Erzähl mir lieber von B-bullcocks.«
»Er kann nicht verzeihen. Außer den acht, die er selbst getötet hat, habe ich noch andere Spuren gesehen: Menschen, die durch seine Schuld gestorben sind. Es sind viele. Sehr viel mehr als die anderen.«
Fandorin beugte sich gespannt vor.
»Wie, das alles kannst du sehen?«
»Ja. Das Gesicht eines Mörders ist nicht schwer zu entziffern, es ist sehr ausgeprägt und kontrastreich.«
»Ein richtiger Lombroso«, murmelte Fandorin und griff sich ans Jochbein. »Nein, nein, schon gut, red weiter.«
»Die meisten Spuren im Gesicht findet man bei Kriegsgenerälen, Artillerieoffizieren und natürlich Henkern. Aber die schlimmsten Narben, von normalen Menschen nicht zu erkennen, trug ein überaus friedlicher und wunderbarer Mann, ein Arzt in dem Freudenhaus, in dem ich arbeitete.«
O-Yumi sagte das so gelassen, als rede sie von einer ganz gewöhnlichen Arbeit – als Schneiderin oder Putzmacherin.
Fandorin zuckte innerlich zusammen, und damit sie es nicht merkte, fragte er hastig: »Ein Arzt? Seltsam.«
»Gar nicht. Er hat viele Jahre lang Tausenden Mädchen geholfen, ihre Leibesfrucht zu töten. Die Narben bei dem Arzt waren ganz klein, wie Wasserkräusel, doch die von Aldgie sind tief und blutig. Wie soll ich ihn da nicht fürchten?«
»Er wird dir nichts tun«, sagte der Vizekonsul finster, aber bestimmt. »Dazu wird er nicht kommen. Mit Bullcocks ist es aus.«
Sie sah ihn voller Angst und Bewunderung an.
»Du wirst ihn vorher töten, ja?«
»Nein«, entgegnete Fandorin, schob den Vorhang ein Stück auf und blickte vorsichtig zu Doronins Fenstern. »Bullcocks wird dieser Tage aus Japan ausgewiesen. Mit Schande. Vielleicht sogar ins Gefängnis gesperrt.«
Es war Mittagszeit, Shirota führte seine »Kapitänstochter« vermutlich wie üblich ins Grandhotel aus, doch hinter dem Fenster der Konsulwohnung – verflucht! – entdeckte Fandorin eine vertraute Gestalt. Doronin, die Arme vor der Brust verschränkt, schaute direkt zu der Kutsche vorm Tor.
Die leicht bekleidete O-Yumi vor seinen Augen über den Hof zu führen war undenkbar.
»Warum zögern wir?« fragte sie. »Gehen wir! Ich möchte mich so schnell wie möglich in meinem neuen Zuhause einrichten. Bei dir ist es so ungemütlich!«
Sich wie ein Dieb ins Haus zu stehlen war ebenso ausgeschlossen. O-Yumi war eine stolze Frau, das
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