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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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ein wenig frischer.«
    Kamata grunzte etwas, ohne sich umzudrehen. Er schien jedes Interesse an dem Gaijin verloren zu haben.
    Toter Baum, toter Baum, hämmerte es im Kopf des Vizekonsuls.
     
    Auch nach dem Tode
    Ihre Schönheit bewahren
    Können nur Bäume.

Glühende Kohlen
    Im Dunkeln zum benachbarten Berg zu gelangen war nicht weiter schwierig – Fandorin hatte sich die Richtung genau eingeprägt.
    Blindlings kletterten sie bergauf – wenn es nicht mehr höher ging, mußten sie die Kuppe erreicht haben.
    Zu bestimmen, wo genau der abgebrochene Teil lag, war allerdings nicht ganz einfach.
    Fandorin und sein Diener liefen geradeaus, nach rechts und nach links, stürzten um ein Haar beinahe eine Steilwand hinunter, aber es war nicht die gesuchte – darunter rauschte ein Bach, auf dem Grunde der Felsspalte aber gab es keinen.
    Wer weiß, wieviel Zeit die Suche noch gekostet hätte, aber zum Glück klarte der Himmel langsam auf: Die Wolken zogen nach Osten, die Sterne leuchteten immer heller, und bald kam auch der Mond heraus. Nach der stockdunklen Finsternis schien es, als habe jemand einen Leuchter mit tausend Kerzen über der Welt angezündet, so hell, daß man hätte Zeitung lesen können.
    Kamata hätte wohl ziemlich lange auf ein Gewitter warten müssen, dachte Fandorin und führte Masa zur Bergspalte. Ganz in der Nähe rief eine Eule, nicht »uhu, uhu« wie in Rußland, sondern »ufu, ufu«. Das ist der einheimische Akzent, die Silbe »hu« gibt es ja im Japanischen nicht, sagte sich Fandorin.
    Sie hatten die gesuchte Stelle erreicht – auf der gegenüberliegenden Seite stand die verbrannte Kiefer, die Fandorin vorhin aufgefallen war. Dieser tote Baum war seine ganze Hoffnung.
    »Nawa« 1 , flüsterte er seinem Diener zu.
    Masa wickelte das lange Seil ab, das er sich um die Hüfte geschlungen hatte, und gab es Fandorin.
    Wieder kam Fandorin die Kunst des Schlingenwerfens zupaß, ein Andenken aus der türkischen Gefangenschaft. Er knüpfte eine weite Schlinge und beschwerte sie mit seinem kleinen Teekessel aus rostfreiem Stahl. Er trat an den Rand der Schlucht und ließ das Seil pfeifend über seinem Kopf kreisen. Der Teekessel prallte mit kläglichem Klappern gegen den Stamm und hüpfte über Steine. Daneben!
    Er mußte die Schlinge einholen, das Seil aufwickeln und erneut werfen.
    Erst beim vierten Versuch blieb die Schlinge an einem Ast hängen.
    Der Vizekonsul band das andere Seilende um einen Baumstumpf und prüfte, ob es fest saß. Dann wollte er über die Schlucht, doch Masa stieß seinen Herrn entschieden beiseite.
    Er legte sich auf den Rücken, schlang die kurzen Beine um das Seil und hangelte sich rasch hinüber. Das Seil schaukelte, der Baumstumpf knarrte, doch der furchtlose Japaner hielt keinen Augenblick inne. Nach fünf Minuten war er bereits auf der anderen Seite. Er packte das Seil und zog es straff – damit Fandorin nicht so heftig geschaukelt wurde. So trat der Vizekonsul die Reise über dieschwarze Leere mit maximalem Komfort an, er scheuerte sich nur ein wenig die Hände wund.
    Die Hälfte war getan. Die Uhr zeigte drei Minuten nach elf.
    »Na dann, Gott mit uns«, sagte Fandorin leise und nahm seine Herstal aus dem Halfter.
    Masa zog ein kurzes Schwert unterm Gürtel hervor und überprüfte, ob sich die Klinge rasch aus der Scheide ziehen ließ.
    Nach Fandorins Schätzung war die hängende Insel von der Felsspalte bis zum Abgrund rund hundert Sashen breit. Im Spazierschritt eine Strecke von zwei Minuten. Aber sie bewegten sich sehr langsam voran; kein Zweig durfte knacken, keine herabgefallene Kiefernnadel rascheln. Immer wieder blieben sie stehen und lauschten. Nichts – keine Stimmen, kein Klopfen, nur die üblichen Geräusche des nächtlichen Waldes.
    Das Haus wuchs ganz unvermittelt aus der Dunkelheit, Fandorin wäre beinahe gegen die Bretterwand geprallt, die sich dicht an zwei Kiefern schmiegte. Dem Aussehen nach war es eine schlichte Bauernhütte, wie er sie auf der Reise durch das Tal in großer Zahl gesehen hatte: Holzgitter anstelle der Fenster, Strohdach, Schiebetür. Sonderbar war nur eines: Es gab kein freies Gelände um die Hütte herum, sie war dicht von Bäumen umstanden, deren Kronen sich über dem Dach schlossen.
    Im Haus herrschte Totenstille, und Fandorin bedeutete seinem Diener: Weiter!
    Nach fünfzig Schritten stießen sie auf ein zweites Haus, das ebenfalls im Wald versteckt war – eine Kiefer ragte mitten aus dem Dach; sie diente vermutlich als Stützbalken.

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