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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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durchzogen, auf und ab. Die Maschine strahlte beim Arbeiten Wärme ab, weshalb es in dem Raum ziemlich heiß wurde, obwohl Fächer, so groß wie Windmühlenflügel, unablässig kalte Bergluft hereintrieben.
    Der Priester nahm die erste der dreizehn Papierrollen von dem Tablett und führte sie in einen Schlitz an der Oberseite des Allars ein. An diesem Punkt legte Wizard 0.2 richtig los, und Prinzessin Nell sah, daß das ganze Surren und Summen, das sie bisher wahrgenommen hatte, nichts weiter als ein Leerlauf gewesen war. Jeder seiner Millionen Stößel war winzig, aber die Kraft, die aufgewendet werden mußte, um sie alle zu bewegen, war immens, und sie konnte die gewaltige Anstrengung der Getriebestangen als Vibration im Boden der Festung spüren.
    Ringsum auf der Bühne gingen Lichter an, die teilweise in die Oberfläche der Bühne selbst eingebaut, teilweise auch in den umliegenden Maschinen verborgen waren. Zu Prinzessin Nells Überraschung nahm eine scheinbar dreidimensionale Gestalt aus Licht allmählich auf der leeren Bühne Form an. Sie wurde ganz allmählich zu einem Kopf, der um so detaillierter wurde, je lauter die Maschinen rumpelten und zischten: Es war ein alter, kahlköpfiger Mann mit einem langen weißen Bart und nachdenklich gerunzelter Stirn. Nach einigen Augenblicken explodierte der Bart zu einem Schwärm weißer Vögel, und der Kopf selbst wurde zu einem zerklüfteten Berg, um den die weißen Vögel flatterten, bis der Vulkan ausbrach und rotglühende Lava allmählich das gesamte Volumen der Bühne ausfüllte, bis sie aus einem soliden Würfel orangeroten Lichts bestand. Auf diese Weise verschmolz mehrere Minuten lang ein Bild auf höchst wundersame Weise mit dem anderen, während die Maschinerie ununterbrochen toste, bis Prinzessin Nell es richtig mit der Angst bekam, und sie vermutete, wenn sie nicht weniger ausgeklügelte Maschinen in Schloß Turing bei der Arbeit gesehen hätte, wäre sie umgekehrt und geflohen.
    Schließlich verblaßten die Bilder jedoch, die Bühne wurde wieder leer, und der Altar spie einen langen Papierstreifen aus, den der Priester sorgfältig zusammenfaltete und einem der Gehilfen gab. Nach einem kurzen Dankgebet führte der Priester den zweiten Streifen in den Altarschlitz ein, und der gesamte Vorgang begann erneut, diesmal mit anderen, aber deshalb nicht weniger bemerkenswerten Bildern.
    So ging es mit einem Streifen nach dem anderen. Als sich Prinzessin Nell an den Lärm und die Vibrationen des Wizard gewöhnt hatte, fand sie Gefallen an den Bildern, die ihr einen hohen künstlerischen Wert zu haben schienen - wie etwas, das von einem Menschen geschaffen worden sein mußte, und überhaupt nicht von einer Maschine.
    Aber Wizard war zweifellos eine Maschine. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihn in allen Einzelheiten zu studieren, aber nach ihren Erfahrungen in allen anderen Schlössern von König Kojote, vermutete sie, daß es sich auch bei ihm lediglich um eine Turing-Maschine handelte.
    Ihr Studium des Chiffriermarkts und besonders der Vorschriftenbücher, mit deren Hilfe die Chiffrierer die Nachrichten beantworteten, hatten sie gelehrt, daß auch er, trotz seines komplexen Charakters, lediglich eine Turing-Maschine war. Sie war hierher ins Schloß von König Kojote gekommen, um herauszufinden, ob der König seine Botschaften nach Turingschen Regeln beantwortete. Denn in diesem Fall wäre das ganze System – das ganze Königreich – das gesamte Land Jenseits – nichts weiter als eine riesige Turing-Maschine. Und als sie im Kerker von Schloß Turing eingesperrt gewesen war und mit dem geheimnisvollen Herzog kommuniziert hatte, indem sie ihm Nachrichten mittels einer Kette schickte, hatte sie festgestellt, daß eine Turing-Maschine, wie komplex sie auch immer sein mochte, kein Mensch war. Sie hatte keine Seele. Sie konnte nicht vollbringen, was ein Mensch vollbringen konnte.
    Der dreizehnte Streifen wurde in den Altar eingegeben, die Maschine fing an zu pfeifen, dann zu surren, dann zu dröhnen. Die Bilder über der Bühne gerieten ungestümer und exotischer als zuvor, und als Prinzessin Nell die Gesichter der Gehilfen und des Priesters betrachtete, konnte sie feststellen, daß selbst sie überrascht waren; sie hatten noch nie etwas Ähnliches gesehen. Im Lauf der nächsten Minuten wurden die Bilder bruchstückhaft und bizarr, bloß Inkarnationen mathematischer Begriffe, und schließlich wurde die Bühne vollkommen dunkel, abgesehen von vereinzelten bunten

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