Diamond Age - Die Grenzwelt
fünfstöckigen Gebäuden gesäumt wurde, hinter deren zahlreichen Fenstern sich durchaus Heckenschützen verstecken konnten.
Es hielten sich tatsächlich einige Heckenschützen hinter den Fenstern versteckt, wie Carl feststellte, aber viele schossen über die Straße aufeinander, und diejenigen, die doch auf die Straße hinabfeuerten, hätten auf jeden schießen können. Carl sah einen Burschen mit Laservisier an seinem Gewehr, der ein Magazin nach dem anderen auf die Straße abfeuerte, und er überlegte sich, daß dieser Mann eine eindeutige und unmittelbare Gefahr darstellte; in dem Augenblick, als ihr Vorankommen kurz aufgehalten wurde, während der Zulu darauf wartete, daß sich ein besonders verzweifeltes Handgemenge zwischen küstenrepublikanischen Soldaten und Fäusten auflöste, stellte sich Carl breitbeinig hin, legte das Gewehr an die Schulter, zielte und schoß. Im düsteren Fackel- und Feuerschein, der von der Straße aufstieg, sah Carl eine Staubwolke vom Steinrahmen des Fensters über dem Kopf des Heckenschützen aufwirbeln. Der Heckenschütze duckte sich, dann schwenkte er den Laser über die Straße und suchte nach dem Schützen, der diese Kugel abgefeuert hatte.
Jemand rempelte Carl von hinten an. Es war Spence, der von etwas getroffen war und ein Bein nicht mehr benutzen konnte. Ein Mitglied der Fäuste bedrängte den Oberst. Carl rammte dem Mann den Gewehrkolben ans Kinn, so daß er mit verdrehten Augen rückwärts in das allgemeine Durcheinander fiel. Dann ließ er eine neue Patrone einrasten, legte an und versuchte, das Fenster mit seinem Heckenschützenfreund wiederzufinden.
Der war immer noch da und ließ geduldig eine rubinrote Linie über die brodelnde Menschenmenge schweifen. Carl holte tief Luft, atmete langsam aus, betete, daß ihn niemand anrempeln würde, und drückte ab. Der Rückstoß rammte ihm den Gewehrkolben heftig gegen die Schulter, und im selben Augenblick sah er das Gewehr des Heckenschützen aus dem Fenster fallen, das sich überschlug, so daß der rote Laserstrahl durch Rauch und Dunst schnitt wie die Leuchtlinie eines Radarschirms.
Das Ganze war wahrscheinlich keine gute Idee gewesen; wenn einer der anderen Heckenschützen es gesehen hatte, würde er ihn, Carl, mit Sicherheit ausschalten wollen, welcher Gruppierung er auch angehörte. Carl ließ eine neue Patrone einrasten und das Gewehr in der Hand baumeln, zur Straße hinabgedreht, damit es nicht auffiele. Die andere Hand schob er unter Spences Achsel und half ihm, weiter die Straße hinabzugehen. Die Spitzen von Spences Schnurrbart wippten, da der Mann einen endlosen und unerschütterlichen Wortschwall von sich gab; Carl konnte kein Wort verstehen, nickte aber aufmunternd. Nicht einmal der überzeugteste Neo-Viktorianer konnte dieses Schwadronieren ernst nehmen; Carl begriff, daß alles augenzwinkernd gemeint war. Es war nicht Oberst Spences Art zu sagen, daß er keine Angst hatte; vielmehr handelte es sich um eine Art Kode, mit dem er zugeben konnte, daß er halb wahnsinnig vor Angst war, ohne das Gesicht zu verlieren, und Carl dieselbe Chance einräumte.
Mehrere Fäuste stürmten gleichzeitig auf sie zu; die Zulus erledigten zwei, der Israeli vorne einen, aber einer schaffte es und prallte mit seinem Messer von der stichfesten Weste des Israeli ab. Carl hob das Gewehr, klemmte den Kolben zwischen Arm und Oberkörper und feuerte aus der Hüfte. Der Rückstoß schlug ihm die Waffe fast aus der Hand; die Faust machte praktisch einen Überschlag rückwärts.
Carl konnte nicht glauben, daß sie das Ufer noch nicht erreicht hatten; sie mußten schon seit Stunden unterwegs sein. Etwas stieß ihm heftig in den Rücken, so daß er vorwärts stolperte; er drehte sich um und sah einen Mann, der versuchte, ihn mit einem Bajonett zu durchbohren. Ein anderer Mann kam angerannt und versuchte, Carl das Gewehr aus der Hand zu winden. Carl, der im ersten Moment zu überrascht war, um zu reagieren, ließ Spence los, streckte die Hand aus und stach seinem Angreifer die Finger in die Augen. Eine gewaltige Explosion dröhnte in seinen Ohren, er schaute auf und sah, daß sich Spence umgedreht und den Angreifer mit dem Bajonett erschossen hatte. Der Israeli, der die Nachhut gebildet hatte, war einfach verschwunden. Carl legte das Gewehr auf die Leute an, die versuchten, sich von hinten zu nähern; damit und mit Spences Pistole gelang es ihnen, sich den Rücken einigermaßen freizuhalten. Aber etwas Mächtigeres und
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