Diaspora
reinkarnieren, nur um die Philosophie der Körperlichkeit hochzuhalten. Die bei weitem einfachste Methode für die Flüchtlinge, ihr früheres Leben zu rekonstruieren, war der Verbleib in den Poleis, wo sie ihre verlorene Welt simulieren konnten. Yatima schätzte, daß die meisten schließlich ohnehin zu der Erkenntnis gelangen würden, daß jede Form von Vertrautheit kostbarer war als eine abstrakte Unterscheidung zwischen realen und virtuellen Körpern.
Inoshiro traf ein. Hie wirkte ruhiger als sonst. Die letzten Reisen, die sie gemeinsam unternommen hatten, waren eine Strapaze gewesen. Yatima sah immer noch die ausgezehrten Körperlichen vor sich, die sie in einem unterirdischen Bunker gefunden hatten, voller Geschwüre und Parasiten und im Delirium des Hungers. Sie hatten ihren robotischen Wohltätern die Hände und Füße geküßt, dann das nahrhafte Getränk erbrochen, das eigentlich ihre zerfressenen Mägen heilen und direkt vom Blutkreislauf aufgenommen werden sollte. Inoshiro hatte diese Dinge kaum verkraftet, doch in den letzten Wochen der Evakuierungen war hie ruhiger geworden, vielleicht weil hie erkannt hatte, daß der Schrecken allmählich zu Ende ging.
»Gabriel hat mir erzählt«, sagte Yatima, »daß es Pläne in Carter-Zimmerman gibt, den Gleisnern zu folgen.« Die Gleisner hatten ihre erste Flotte bewohnter interstellarer Raumschiffe vor fünfzehn Jahren gestartet, dreiundsechzig Schiffe, die zu einundzwanzig verschiedenen Systemen unterwegs waren.
Inoshiro war perplex. »Ihnen folgen? Warum? Welchen Sinn sollte es haben, dieselbe Reise zweimal zu unternehmen?«
Yatima war nicht sicher, ob hie einen Scherz gemacht oder es wirklich nicht verstanden hatte. »Sie wollen nicht dieselben Sterne besuchen. Sie wollen eine zweite Erkundungswelle mit anderen Zielen starten. Und sie werden nicht mit Fusionsantrieben wie die Gleisner hantieren. Sie wollen es stilvoller machen. Sie planen, Wurmlöcher zu errichten.«
Inoshiros Gesicht bildete das Gestalt-Symbol für ›beeindruckt‹, und zwar mit so uncharakteristischer Klarheit und Eindringlichkeit, daß jede Spur einer sarkastischen Färbung redundant gewesen wäre.
»Es könnte mehrere Jahrhunderte dauern, die erforderliche Technik zu entwickeln«, räumte Yatima ein. »Aber es wird ihnen langfristig einen Vorteil an Geschwindigkeit verschaffen. Abgesehen davon, daß es tausendmal eleganter wäre.«
Inoshiro zuckte die Achseln, als wäre all das ohne Bedeutung, und wandte heine Aufmerksamkeit dem Ausblick zu.
Yatima war verwirrt. Hie hatte damit gerechnet, daß Inoshiro so begeistert von diesem Plan wäre, daß heine vorsichtige Herangehensweise wie Teilnahmslosigkeit wirkte. Aber wenn hie nun dafür argumentieren mußte, dann war es auch gut. »Etwas wie Lac G-1 dürfte sich in der Nähe der Erde kaum in den nächsten Milliarden Jahren wiederholen, aber solange wir nicht wissen, warum es geschah, können wir nur mutmaßen. Wir können nicht einmal sicher sein, ob andere binäre Systeme aus Neutronensternen sich genauso verhalten, wir können nicht davon ausgehen, daß jedes andere Paar kollidieren wird, nachdem sie dieselbe Schwelle überschritten haben. Lac G-1 könnte ein exotischer Sonderfall gewesen sein, der sich niemals wiederholen wird – oder es könnte der günstigste aller möglichen Fälle gewesen sein, so daß es bei jedem anderen System viel früher eintritt. Wir wissen es einfach nicht.« Die alte Mesonenstrahl-Hypothese hatte sich als kurzlebig erwiesen. Niemals war ein Anzeichen entdeckt worden, daß Jets durch interstellares Medium schossen, und detaillierte Simulationen hatten schließlich ergeben, daß farblich polarisierte Kerne, obwohl sie nicht streng unmöglich waren, doch mit einer extrem hohen Unwahrscheinlichkeit verbunden waren.
Inoshiro betrachtete ruhig die sterbende Erde. »Welchen Schaden könnte ein zweiter Lacerta-Zwischenfall jetzt noch anrichten? Und was könnte man tun, um ihn zu verhindern?«
»Dann vergiß Lacerta! Vergiß den Gammastrahlen-Ausbruch! Noch vor zwanzig Jahren dachten wir, die größte Gefahr für die Erde sei der Zusammenstoß mit einem Asteroiden! Wir dürfen nicht selbstzufrieden werden, weil wir diese Katastrophe überlebt haben – im Gegensatz zu den Körperlichen. Lacerta beweist, daß wir nicht wissen, wie das Universum funktioniert – und es sind die Dinge, die wir nicht kennen, die uns töten werden. Oder glaubst du, daß wir in den Poleis für immer in Sicherheit sind?«
Inoshiro
Weitere Kostenlose Bücher