Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
Und wenn Bundesbürger zu Weihnachten auch ein Päckchen von ihren Verwandten aus dem Osten erhielten, bestückt mit Dresdner Stollen und Räucherkerzenfiguren – dann schien für ein paar Stunden die deutsch-deutsche Welt wieder in Ordnung.
33. Was waren die «Stalin-Noten»? War die DDR «Stalins ungeliebtes Kind», wie einige Historiker meinen? Wäre ihm ein neutrales Gesamtdeutschland lieber gewesen und hätte er dafür die Kriegsbeute DDR losgelassen? Diese Fragen haben Spekulationen angeheizt und zeitgenössisch wie in der Wissenschaft ungewöhnlich lange und leidenschaftliche Debatten ausgelöst. Alles begann am 10. März 1952, als der sowjetische Diktator Stalin allen drei Westmächten eine gleich lautende Note auf den Tisch legte. Die UdSSR schlug darin ein aus den Machtblöcken ausgeklammertes, neutralisiertes Deutschland in den Grenzen von 1945 vor, also ohne die ehemaligen Ostgebiete. War dies eine sensationelle, ernst gemeinte Offerte? War Stalin wirklich bereit, die DDR aufzugeben? Oder lief die Note nur auf einen durchsichtigen Bluff hinaus? Sollte sie bloß ein gezieltes Störmanöver sein, um den bevorstehenden Abschluss der Westverträge – also die volle Eingliederung der Bundesrepublik in den Westen – zu torpedieren? Oder gab es 1952 eine Chance zur Wiedervereinigung? Bereits damals standen sich zwei Interpretationen schroff gegenüber: die Angebotsthese und die Propagandathese. Bis zum Herbst 1952 folgten weitere Noten, und da die Westmächte ihrerseits antworteten, entwickelte sich ein regelrechtes west-östliches Notengefecht.
Konrad Adenauer zweifelte keinen Augenblick und nannte die Stalin-Noten einen «Fetzen Papier». Genauso wenig wie die Amerikaner war er bereit, sich beirren und vom eingeschlagenen Weg der Westintegration abbringen zu lassen. Adenauers Verteidiger haben den Kanzler bis in die Gegenwart hinein stets dafür gelobt, dass er den westlichen Teil Deutschlands vor einem langfristigen Zugriff der UdSSR gerettet und somit ein «Sowjetdeutschland» verhindert habe. Seine Kritiker hingegen fragten, ob nicht doch vielleicht eine Gelegenheit zur Wiederherstellung des gesamtdeutschen Nationalstaats verpasst worden sei. Im April 1952 schrieb der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher dem Kanzler einen eindringlichen Brief: Es dürfe nichts unversucht bleiben, um «festzustellen, ob die Sowjetnote eine Möglichkeit bietet, die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit durchzuführen. Wenn sich bei den Verhandlungen herausstellen würde, dass es keine Möglichkeit gebe, dann wäre doch auf jeden Fall klargestellt, dass die Bundesrepublik keine Anstrengung gescheut hat, um eine sich bietende Chance zur Wiedervereinigung Deutschlands und Befriedung Europas auszunützen». Auch wichtige Parteifreunde Adenauers und Minister in seinem Kabinett, vor allem Jakob Kaiser, der Minister für Gesamtdeutsche Fragen, warnten vor einer zu hastigen Ablehnung. Ähnlich sahen es Vizekanzler Franz Blücher von der FDP, aber auch Heinrich von Brentano, der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Nicht zuletzt war die Presselandschaft in der Bundesrepublik gespalten. Durfte man mit Blick auf die ostdeutschen Landsleute, die in Knechtschaft leben mussten, auch nur irgendetwas unterlassen, um zu erfahren, ob es die Sowjets ernst meinten? Aber der Westen stellte Stalin 1952 nicht auf die Probe. Vor allem für die USA kam es unter keinen Umständen in Frage, Westdeutschland für eine neutralistische Lösung aufzugeben.
Die Kontroverse schwelte jahrzehntelang weiter, bot sie den Kritikern des Kanzlers doch die wohlfeile Gelegenheit, ihm vorzuwerfen, er habe die deutsche Wiedervereinigung gar nicht gewollt. Dutzende Bücher sind über die Stalin-Noten geschrieben worden. Seitdem im Jahr 2007 auch russische Akten eingesehen werden konnten, sind sämtliche Zweifel ausgeräumt. Es handelte sich um einen schnöden «Bluff» Stalins: Er wollte nur eines, nämlich Unruhe stiften und Zwietracht säen, um die Eingliederung der Bundesrepublik in den Westen zu torpedieren. Dies misslang.
34. Wieso zündete man am 17. Juni Kerzen an? Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR, an dem sich rund eine Million Menschen beteiligten, war eine der wenigen demokratischen Erhebungen in der deutschen Geschichte. Er wurde noch am selben Tag von der Roten Armee blutig niedergeschlagen – die Revolution scheiterte tragisch, aber sie traf die Deutschen im Osten wie im Westen ins Mark. In der Bundesrepublik erklärte das
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