Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
unterlagen; SALT regelte nur die Begrenzung strategischer Interkontinentalwaffen. Militärische Aufrüstung der Sowjetunion trotz nach außen praktizierter Entspannungspolitik – wie sollte der Westen darauf reagieren? Im Januar 1979 trafen sich die Staats- und Regierungschefs der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland zu einem «Vierergipfel» auf der Karibikinsel Guadeloupe. Hier wurden die Weichen für den NATO-Doppelbeschluss gestellt. Jimmy Carter, der amerikanische Präsident, schlug vor, neue Waffen als Gegengewicht zur sowjetischen Aufrüstung in Europa zu stationieren. Die Europäer zögerten und meinten, man solle zunächst mit der Sowjetunion verhandeln, bevor neue Waffen aufgestellt würden. Damit war im Prinzip die Idee des NATO-Doppelbeschlusses geboren. Erstmals sollten Rüstungskontrollverhandlungen
vor
dem Vollzug eines Rüstungsbeschlusses stattfinden. Am 12. Dezember 1979 wurde derDoppelbeschluss im NATO-Rat in Brüssel offiziell gefasst. Er sah vor, dass im Falle eines Nichtabbaus der SS-20-Raketen binnen vier Jahren – so lange gab man der UdSSR für Abrüstungsverhandlungen Zeit – 108 amerikanische «Pershing II»-Raketen und 464 Marschflugkörper vom Typ «Cruise Missile» vor allem in der Bundesrepublik stationiert werden sollten, um das Kräftegleichgewicht in Europa wiederherzustellen.
In ganz West-Europa formierte sich eine breite Friedensbewegung, doch besonders in der Bundesrepublik wuchs sie so stark an wie nie zuvor. Am 10. Oktober 1981 demonstrierten in Bonn rund 300.000 Menschen gegen die atomare Rüstung, und im Juni 1982, als in der Bundeshauptstadt der NATO-Gipfel stattfand, wuchs die Zahl der Demonstrierenden auf über eine halbe Million Menschen an. Monatelang blockierten Demonstranten das US-Raketenlager im südwestdeutschen Mutlangen. Ihren Höhepunkt erreichte die Friedensbewegung im Oktober 1983. In einer «Aktionswoche» gegen die NATO-Nachrüstung bildeten Demonstranten eine 108 km lange Menschenkette von Ulm bis Stuttgart, und in Bonn demonstrierten eine Million Menschen. Kein anderes Ereignis hat jemals in der Bundesrepublik so viele Demonstranten auf die Straße gebracht wie die Nachrüstung.
Aber die Nachrüstung konnte durch die Friedensbewegung nicht verhindert werden. Und so aufrichtig pazifistisch der Protest von Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten gegen den Rüstungswahn auch war, so muss man doch der Friedensbewegung eine gewisse Blauäugigkeit und Einseitigkeit bescheinigen. Ohne den NATO-Doppelbeschluss − den Bundeskanzler Schmidt vehement verteidigte, während seine eigene Partei, die SPD, ihn ablehnte und damit ihrem Kanzler das Vertrauen entzog − wäre die Sowjetunion nicht in ihre Schranken verwiesen worden. Vermutlich wäre sie nicht so schnell zerfallen, wie es tatsächlich geschehen ist, weil sie sich finanziell und wirtschaftlich zu Tode gerüstet hatte. Die neue Bundesregierung unter Helmut Kohl, die nach der Bundestagswahl von 1983 auch ein Mandat für ihre Sicherheitspolitik erhalten hatte, setzte die Nachrüstung durch.
29. In welchen Formen leistete die Bundesrepublik Entwicklungshilfe? Dass Entwicklungshilfe eine freiwillig geleistete Hilfe sei, für die ausschließlich moralische Maßstäbe gelten würden, ist ein Irrtum.Die bundesdeutsche Politik gegenüber Staaten der «Dritten Welt» hat seit 1949 mehrere Wandlungen durchgemacht, die verdeutlichen, wie stark sie bestimmten Interessen verhaftet ist. Von 1949 bis 1969 stand die Entwicklungshilfe ganz im Zeichen des Systemkonflikts zwischen der Bundesrepublik und der DDR: Hilfe konnte von der Bundesrepublik nur erwarten, wer ihren Alleinvertretungsanspruch anerkannte und die DDR mied. 1961 wurde ein eigenständiges Ministerium gegründet, das bezeichnenderweise den Namen «Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit» trug und zunächst von Walter Scheel (FDP) geleitet wurde; erst 1993 trat zu «Wirtschaftliche Zusammenarbeit» der Zusatz «und Entwicklung» hinzu. Das Ministerium wurde gebildet, da der amerikanische Präsident John F. Kennedy 1961 eine «Dekade der Entwicklung» ausgerufen hatte und die 1960er Jahre eine Ära der weltweiten Entkolonialisierung waren. Einen bedeutsamen Wandel brachte der Machtwechsel von 1969. Entwicklungshilfepolitik sollte internationale Sozial- und Friedenspolitik sein und unter dem Motto «Hilfe zur Selbsthilfe» stehen. Mit seinen hochfliegenden Plänen, die Entwicklungshilfe als dritte
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