Die 13. Stunde
verpasst hätte? Was, wenn ich gesagt hätte, sie dürfe nicht fliegen und müsse bis Montag warten? Was, wenn ich ihn nicht gedrängt hätte, den Flug für heute zu buchen, damit ich nächste Woche ans Meer fahren kann?
Was, wenn sie wegen einer geschäftlichen Angelegenheit in letzter Sekunde aus dem Flugzeug gestiegen wäre?
Nick wusste, dass er von Glück sagen konnte, jetzt nicht in diesem Gebäude stehen und mit Fremden über seine Trauer sprechen zu müssen, ohne dass die Chance bestand, dass Julia je zurückkehrte. Sie war in der Maschine gewesen, die nun zerschmettert auf dem Sportfeld lag. Sie hatte sich eingecheckt, hatte ihr Handgepäck verstaut und den Sicherheitsgurt angelegt in einer Maschine, die zum Untergang verdammt war. Doch Julia war gerettet worden, vom Schicksal aus der Maschine geholt.
Aber nur für zehn Stunden. Diese zehn Stunden Lebenszeit hatte sie durch eine Laune des Schicksals erhalten, durch einen Einbruch – ein Verbrechen, das zu verstehen sie niemals die Gelegenheit bekommen würde, weil sie am Ende von den gleichen Leuten, deren Verbrechen ihr das Leben gerettet hatte, erschossen wurde …
Als Nick das Schluchzen von Kindern hörte, deren Väter nie mehr nach Hause kommen würden, von Frauen, die sich nun allein der Welt stellen mussten, dachte er an die Uhr in seiner Tasche und fragte sich, wieso er mitten in diesem schrecklichen, verrückten Tagtraum stand, in dem er versuchte, Julia vor dem Grab zu retten. War es nur eine Wahnvorstellung, ein Traum der Hoffnung, aus dem er nicht mehr herausfand? Er war Zeuge geworden, wie die Stunden zurückliefen, wie das Unfassbare ihn umschloss. Er hatte Julia tot daliegen sehen … und dann, nur Augenblicke später, war sie ihm quicklebendig aus der Küche entgegengekommen.
Es war verrückt, widersinnig.
Als die Tür sich langsam wieder schloss und die Klagelaute verstummten, kehrte Nick in die Wirklichkeit zurück. Er würde sämtliche Widersinnigkeiten verdrängen und allen Schmerz bekämpfen, den er durchlebt hatte. Wider die Gesetze der Physik von Zeit und Raum, die Einstein formuliert hatte, würde er die Kluft der Zeit mit seinem Herzen überbrücken. Zum zweiten Mal an diesem Tag würde er Julia den Klauen des Schicksals entreißen. Er würde das Was-wenn geschehen lassen.
Entschlossen wandte Nick sich zu dem Captain um, der gerade mit einem großen muskulösen Mann in eng sitzendem schwarzem Hemd sprach, der am Gürtel seiner Jeans Dienstmarke und Pistolenholster trug. Seine Hände waren schwarz vom Ruß, durch den Schweißstreifen liefen. Sein zerzaustes schwarzes Haar erzählte die Geschichte eines mühseligen Tages.
»Mr. Quinn«, rief der Captain.
Nick trat auf den Detective zu und hoffte, endlich einen Verbündeten gefunden zu haben, der ihm zuhören und helfen würde, Julias Mörder zu fassen.
»Mr. Quinn, das ist Detective Bob Shannon.«
Nick wandte sich um und blickte direkt in Shannons schiefergraue Augen. Eine Woge der Panik erfasste ihn, als ihm klar wurde, wem er da ins Gesicht schaute.
»Bob Shannon.« Der Kriminalbeamte reichte ihm die Hand.
Die Welt drehte sich um Nick. Vor ihm stand der Mann, der ihn in der Zukunft verhaftet hatte, der ihn behandelt hatte wie den letzten Dreck. Der Mann, der im Verhörraum mit dem Schlagstock auf den Tisch geschlagen hatte; der Nick angebrüllt und ihm vorgeworfen hatte, Julia ermordet zu haben; der mit der Pistole auf Nicks Kopf gezielt hatte, bereit, den Abzug zu drücken.
Den Ausdruck in Shannons Augen kannte Nick von den meisten Freiwilligen, die er heute gesehen hatte: Erschöpfung, Betroffenheit, Hoffnungslosigkeit.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Shannon.
Nicks Blick fiel auf Shannons Hals. Wegen der Hitze hatte der Detective sein zu enges schwarzes Hemd aufgeknöpft, sodass die muskulöse Brust zu sehen war. Dass Nick dort keinen Christopherus-Anhänger sah, beruhigte ihn ein wenig, was die Vertrauenswürdigkeit der Polizei anging.
Er wusste nicht, wo er anfangen sollte, und es gelang ihm einfach nicht, seine Befürchtung abzuschütteln, Shannon könnte ihn irgendwie erkennen und über den Haufen schießen, weil er aus dem Verhörraum geflohen war. Dann aber rief er sich in Erinnerung, dass all das ja erst noch geschehen würde.
»Jemand ist hinter meiner Frau her«, sagte er.
»Was meinen Sie damit?« Shannons Stimme klang müde.
»Jemand versucht, sie zu töten.«
»O Gott«, sagte Shannon mit überraschender Anteilnahme. »Wie heißen
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