Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 02 - Der goldene Narr
angeboten, und ich fragte ihn auch nicht danach. Ich war sicher, dass sie vieles enthielten, das ich eigentlich gar nicht wissen wollte. Doch wie ich Chade kannte, fürchtete ich, dass das Versagen seines Erinnerungsvermögens mir immer noch nicht erklärte, was er da tat. »Ich weiß, dass es für dich in letzter Zeit recht schwer gewesen ist. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Aber warum Willst du dich dann noch mehr belasten, indem du versuchst, die Gabe zu erlernen?«
Er ballte die Fäuste auf dem Tisch. »Wegen dem, was ich gelesen habe. Wegen dem, was du mir von deinen Taten erzählt hast. In den Texten heißt es, ein Gabennutzer könne seinen eigenen Körper heilen, seine Lebensspanne verlängern. Wie alt war diese Krähe, mit der du gereist bist? Zweihundert Jahre? Dreihundert? Und sie war noch immer fit genug für einen Winter in den Bergen. Du hast mir selbst gesagt, dass du deinen Wolf mit der Gabe wieder geheilt hast, zumindest für eine gewisse Zeit. Wenn ich mich dir öffnen könnte, würdest du dann das Gleiche für mich tun? Oder wenn du dich weigern solltest – wie ich glaube –, könnte ich es dann nicht selber tun?«
Als müsse er mir beweisen, wie entschlossen er war, schnappte er sich die Tasse und leerte sie in einem Zug. Dann würgte und spie er. Seine Lippen waren noch nass von dem dunklen Trank, als er nach dem Weinglas griff und es in einem Zug leerte. »Wie ich sehe, fühlst du dich nicht bemüßigt, sofort aufzuspringen und mir deine Hilfe anzubieten«, bemerkte er verbittert, als er sich den Mund abwischte.
Ich seufzte. »Chade. Ich kenne die Grundlagen ja kaum gut genug, um den Prinzen zu unterrichten. Wie könnte ich dir dann anbieten, dich in einer Magie zu unterweisen, die ich selber kaum verstehe? Was, wenn ich …?«
»Das war schon immer deine größte Schwäche, Fitz. Dein ganzes Leben lang. Du bist zu vorsichtig. Du hast nicht genug Ehrgeiz, keine Ambitionen. Listenreich hat das an dir gefallen. Er hat dich nie gefürchtet wie zum Beispiel mich.«
Während ich ihn schmerzerfüllt anstarrte, redete er weiter; offenbar hatte er gar nicht bemerkt, was für einen Schlag er mir versetzt hatte. »Ich habe auch nicht erwartet, dass du es gutheißen würdest – nicht dass ich deine Zustimmung benötigen würde. Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich die Ränder dieser Magie allein erkunde. Wenn ich die Tür dann erst einmal geöffnet habe, nun, dann werden wir ja sehen, was du dann von deinem alten Mentor denkst. Ich denke, ich werde dich überraschen, Fitz. Ich denke, dass ich das Talent dafür habe, vielleicht schon mein ganzes Leben lang. Du selbst hast mich auf die richtige Spur geführt, als du von Dicks Musik gesprochen hast. Ich kann sie hören – glaube ich jedenfalls. Am Rand meines Geistes ist sie da kurz bevor ich einschlafe. Ich denke, ich habe die Gabe.«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Er wartete darauf, dass ich auf sein Verlangen reagierte. Ich konnte jedoch nur daran denken, was er über meine Ambitionen gesagt hatte. Ich glaubte nicht, dass ich zu wenig davon besaß. Nur hatte ich nie nach den Zielen gestrebt, die er für mich gesetzt hatte. Also wuchs das Schweigen zwischen uns und wurde immer unangenehmer. Als Chade es schließlich brach und radikal das Thema wechselte, machte das alles nur umso schlimmer.
»Nun. Wie ich sehe, hast du mir nichts zu sagen. Also …« Er rang sich ein Lächeln ab und erkundigte sich: »Wie ergeht es deinem Jungen in seiner Lehre?«
Ich stand auf. »Schlecht. Ich nehme an, dass es ihm wie seinem Möchtegernvater an Ehrgeiz mangelt. Gute Nacht, Chade.«
Ich verbrachte den Rest der Nacht in meiner Dienerkammer. Ich schlief nicht. Ich wagte es nicht. In letzter Zeit mied ich mein Bett; nur wenn Erschöpfung mich zu überwältigen drohte, legte ich mich hin. Das lag nicht nur daran, dass ich die Nachtstunden dafür nutzen musste, die Gabenschriften zu studieren, sondern auch, weil ich belagert wurde, kaum dass ich die Augen geschlossen hatte. Vor dem Schlafengehen errichtete ich meine Gabenmauern, und nahezu jede Nacht rannte Nessel dagegen an. Ihre Kraft und ihre Zielstrebigkeit beunruhigten mich. Ich wollte nicht, dass meine Tochter die Gabe benutzte. Ich konnte sie unmöglich nach Bocksburg bringen, um sie zu unterweisen, und ich hatte Angst um sie, wenn sie alleine auf Erkundung ging. Ich glaubte, wenn ich sie einmal durchlassen würde, würde ich sie nur ermutigen, es weiter mit der Magie zu versuchen.
Weitere Kostenlose Bücher