Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 02 - Der goldene Narr
gestattete hatte, mich unterweisen zu lassen, und an seinen Frust, als ich scheinbar versagt hatte und noch nicht einmal mit ihm über meinen Unterricht hatte sprechen wollen. Das war eine sehr, sehr alte Wut, nur, dass er sie mir hier und jetzt zum ersten Mal enthüllte.
»Warum jetzt?«, fragte ich ihn in gelassenem Tonfall. »Du hast die Gabenschriften doch schon seit fünfzehn Jahren in Verwahrung. Warum hast du bis jetzt gewartet?« Ich glaubte, die Antwort zu kennen: Er wollte mich in der Nähe haben, um ihm dabei zu helfen. Erneut überraschte er mich.
»Was lässt dich glauben, dass ich gewartet hätte? Aber du hast Recht, ich habe mich erst in letzter Zeit eifriger bemüht, denn ich brauche diese Magie. Wir haben schon früher davon gesprochen. Ich wusste, dass du mir nicht helfen würdest.«
Da hatte er Recht. Aber hätte er mich in diesem Augenblick gefragt, ich hätte ihm nicht sagen können warum. Ich wich der Frage aus. »Weshalb brauchst du sie ausgerechnet jetzt, wo es im Land verhältnismäßig friedlich zugeht? Warum willst du so viel riskieren?«
»Fitz. Schau mich an. Schau mich an! Ich werde alt. Die Zeit hat ein übles Spiel mit mir gespielt. Als ich noch jung und fähig war, war ich in diesen Kammern eingesperrt, versteckt und machtlos. Nun, da ich die Chance habe, den Weitseherthron auf eine solide Grundlage zu stellen, nun da meine Familie mich am meisten braucht, bin ich alt und schwach. Mein Geist wankt, mein Rücken schmerzt, und ein Schleier legt sich auf meine Erinnerungen. Glaubst du etwa, ich würde das Entsetzen auf deinem Gesicht nicht sehen, wenn ich dir sage, ich müsse erst einmal in meinen Aufzeichnungen nachsehen, bevor ich dir eine Information gebe? Jetzt stell dir mal vor, wie ich mich dabei fühle. Fitz, stell dir vor, wie es ist, seine eigenen Erinnerungen nicht mehr zur Verfügung zu haben. Stell dir vor, wie es ist, nach einem Namen zu suchen oder den Gesprächsfaden mitten in einem Satz zu verlieren. Als du als Junge geglaubt hast, dein Körper würde dich mit seinen Anfällen verraten, warst du vollkommen verzweifelt und am Boden zerstört. Deinen Verstand hast du jedoch immer gehabt. Ich glaube inzwischen, dass ich meinen verliere.«
Das war eine ebenso furchtbare Enthüllung, als hätte ich plötzlich entdecken müssen, dass die Grundfesten der Burg selbst in Wanken geraten waren. Erst vor kurzem hatte ich wirklich zu schätzen gelernt, was Chade alles für Kettricken bewältigte. Mir selbst fiel es noch immer schwer, mich in dem feinen Netz aus gesellschaftlichen Verpflichtungen und Ränken zurechtzufinden, die am Hof von Bocksburg herrschten. Als ich ein Junge war, hatte Chade alles für mich interpretiert, das in der Burg vor sich ging, und ich war damit zufrieden gewesen, seinem Wort zu glauben. Nun sah ich das Ganze mit den Augen eines Mannes und fand die höfische Welt erstaunlich kompliziert.
Aber auch faszinierend. Das alles war wie Krähes Steinspiel nur in einem viel größeren Maßstab. Spielsteine bewegten sich, immer neue Bündnisse wurden geschlossen, und die Waagschale der Macht neigte sich mal hierhin, mal dorthin, manchmal innerhalb nur weniger Stunden. Das ließ mich nur umso mehr über Chades enormes Wissen staunen, mit dem er Königin Kettricken geschickt durch den Balanceakt der Hofpolitik führte. Alles war miteinander verbunden und ich kam da nicht mehr mit.
Seit meiner Rückkehr nach Bocksburg hatte ich darüber gestaunt, wie der alte Mann das alles bewältigte, und mich vor dem Tag gefürchtet, da er das nicht mehr können würde. Das alles fiel ihm längst nicht mehr so leicht wie früher. Das Vorhandensein seiner Aufzeichnungen, riesiger Bücher im jamailianischen Stil gebunden, war ein Hinweis darauf, dass er seinem Gedächtnis nicht mehr vertraute. Insgesamt gab es sechs gleichgroße Bände in unterschiedlichen Farben: rot, blau, grün, gelb, purpurn und golden, je einen für eine der Sechs Provinzen. Woher er wusste, welche Information in welchen Band gehörte, entzog sich meinem Verständnis. Ein siebter Band, weiß und mit dem Weitseherbock auf dem Umschlag, enthielt die alltäglichen Details. Dieses Buch zog er am häufigsten zu Rate und suchte darin nach irgendeinem Gerücht, dem Text eines Gesprächs oder dem Bericht eines Spions. Obwohl er diesen geheimen Band in seiner verborgenen Kammer versteckt hatte, verfasste er sämtliche Notizen in seinen eigenen, kryptischen Worten. Er hatte mir keinen Zugriff auf seine Bücher
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