Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 02 - Der goldene Narr
mich davon überzeugt, dass die Gabenmagie einem Fähigkeiten verleihen konnte, die jenen der Götter nicht viel nachstanden. Mit der Gabe konnte man verletzen oder heilen, blenden oder erleuchten, ermutigen oder zermalmen. Ich hielt mich nicht für weise genug, um über solch eine Macht zu gebieten, geschweige denn, darüber zu entscheiden, wer sie erben sollte. Je mehr Chade las, desto begieriger wurde er auf die Magie, die ihm durch seine illegitime Geburt verweigert worden war. Oft machte er mir mit seinem Enthusiasmus Angst für alles, was die Gabe ihm zu bieten schien. Dass er überdies darauf bestand, alleine in die Geheimnisse dieser Magie vorzudringen, bereitete mir zusätzliche Furcht. In letzter Zeit hatte er jedoch nicht mehr davon gesprochen, und das wiederum ließ mich hoffen, dass er keinen Erfolg mit seinen Bemühungen hatte.
Was ich jedoch nicht zu hoffen wagte, war, dass dadurch die Entscheidung wieder in meinen Händen lag. Ich konnte mich weigern, ich konnte fliehen, aber mit oder ohne mich, Chade würde weitermachen. Sein Wille war ebenso stark wie sein Verlangen nach der Gabe. Auch würde er versuchen, nicht nur sich selbst, sondern auch Pflichtgetreu und Dick zu unterrichten – und Nessel, wie mir plötzlich bewusst wurde. Chade betrachtete die Gabe nämlich nicht als gefährlich, sondern als erstrebenswert. Überdies hatte er das Gefühl, ein Recht darauf zu haben. Bastard hin oder her, er war ein Weitseher, und somit durfte er auch die Weitsehermagie für sich beanspruchen. Man hatte ihm sein Geburtsrecht verweigert, weil er nur ein Bastardweiterseher war – genau wie meine Tochter.
Plötzlich legte ich meinen Finger auf eine Wunde, die schon seit Jahren in mir geschwärt hatte. Die Weitsehermagie. Das war die Gabe. Angeblich besaßen die Weitseher ein ›Recht‹ darauf, und mit dieser Annahme ging die Vorstellung einher, dass die Weitseher die Weisheit besaßen, solch eine Art von Magie anzuwenden. Chade, der auf der falschen Seite des Bettes geboren worden war, hatte man als unwürdig erachtet und ihm herzlos jedwede Ausbildung in der Gabe verweigert. Vielleicht hatte er auch nie das Talent dafür besessen, oder vielleicht war es verkümmert, weil es nicht genährt worden war. Aber nach all den Jahren nagte die Ungerechtigkeit des Ganzen noch immer an dem alten Mann. Ich war sicher, dass seine vereitelten Ambitionen hinter seinem unbändigen Verlangen standen, die Gabe wiederauferstanden zu sehen. Glaubte er, dass ich Nessel ebenso um ihr Recht betrog, wie man ihn einst darum betrogen hatte? Ich blickte ihn an. Hätten Veritas, Chade und Philia sich nicht für mich eingesetzt, ich wäre vielleicht genauso wie der alte Assassine.
»Du bist sehr ruhig«, bemerkte Chade.
»Ich denke nach«, erwiderte ich.
Er runzelte die Stirn. »Fitz. Das ist der Befehl der Königin, keine Bitte, über die man nachdenken könnte. Einem Befehl gilt es zu gehorchen.«
Keine Bitte, über die man nachdenken könnte. In meiner Jugend hatte ich über so vieles nicht nachgedacht. Ich hatte schlicht meine Pflicht erfüllt. Jetzt war ich ein Mann, und ich schwankte, aber nicht zwischen Pflichterfüllung oder dem Bruch meines Eids, sondern zwischen richtig und falsch. War es richtig, eine weitere Generation in der Gabe zu unterrichten und die Weitsehermagie so in unserer Welt zu erhalten? War es richtig, dieses Wissen sterben und außer Reichweite der Menschheit verschwinden zu lassen? Wenn es immer welche gab, die sie nicht haben durften, wäre es dann nicht richtiger, sie allen zu verweigern? Glich der geschützte Besitz von Magie dem Horten von Reichtümern, oder war das schlicht ein Talent, das man besaß oder nicht wie die Fähigkeit, gut zu schießen oder beim Singen jeden Ton zu treffen?
Ich fühlte mich von den Fragen wie belagert, die in meinem Kopf herumspukten, und mein Herz schrie mir noch eine ganz andere Frage zu: Gab es denn keine Möglichkeit, Nessel davor zu bewahren? Ich konnte es einfach nicht ertragen. Ich konnte es nicht ertragen, zusehen zu müssen, wie all die Opfer, die ich gebracht hatte, plötzlich zur Sinnlosigkeit verdammt wurden. Das Geheimnis von Nessels Geburt und meines Überlebens sollten jenen enthüllt werden, die am verwundbarsten dafür waren. Ich konnte mich weigern, Gabenunterricht zu geben, aber das würde Nessel keinen Frieden bringen. Ich konnte sie aus ihrem Heim entführen und fliehen, aber das wäre genauso zerstörerisch wie das, was ich fürchtete.
Als Krähe
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