Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 03 - Der weisse Prophet
sich von der qualvollen Erinnerung ab, und wir standen nicht mehr länger auf dem Hügel mit dem geschmolzenen Turm. Stattdessen befanden wir uns in einer Dachkammer. Meine Wolfsohren berührten fast die niedrigen Deckenbalken. Nessel saß auf ihrem Bett, die Knie an die Brust gezogen. Hinter dem Vorhang, der uns vom Rest des Dachbodens trennte, hörte ich das Atmen ihrer Brüder. Einer bewegte sich im Schlaf und weinte unaufhörlich. In dieser Nacht träumte niemand friedlich in diesem Haus.
Ich wünschte mir verzweifelt, sie anzuflehen, Molly nichts von mir zu erzählen. Ich wagte es jedoch nicht, denn dann hätte sie gewusst, dass ich log. Ich fragte mich, ob sie schon vermutete, dass es eine stärkere Verbindung zwischen mir und ihrer Mutter gab. Ich antwortete ihr nicht direkt. »Ich glaube nicht, dass dein Vater lange fortbleiben wird. Wirst du mir Bescheid geben, wenn er wieder zu Hause ist, um mich zu beruhigen?«
»Falls
er wieder nach Hause kommt«, erwiderte sie mit leiser Stimme. Nessel redete widerwillig weiter, als würde die Wahrheit realer werden, wen man sie zum Ausdruck brachte. »Er ist schon einmal ausgeraubt und verprügelt worden, als er allein auf die Suche nach Flink gegangen ist. Uns gegenüber hat er das zwar nie zugegeben, aber wir wissen, dass es das ist, was ihm widerfahren ist. Nichtsdestotrotz hat er sich wieder allein auf den Weg gemacht.«
»Das ist typisch Burrich«, sagte ich. Ich wagte nicht, laut auszusprechen, was ich tief in meinem Herzen hoffte: dass er auf einem Pferd losgeritten war, das er gut kannte. Auch wenn er selbst nie die Alte Macht nutzen würde, um mit seinem Reittier zu sprechen, hielt das die Tiere, mit denen er arbeitete, nicht davon ab, mit ihm zu kommunizieren.
»Ja, das ist typisch für meinen Vater«, stimmte mir Nessel zu und klang dabei stolz und besorgt zugleich. Und dann begannen die Wände ihres Zimmers zu zerlaufen wie Tinte auf einem Brief, wenn Tränen darauf fallen. Sie war das Letzte, was aus meinem Traum verblasste. Als ich wieder zu mir kam, starrte ich in eine dunkle Ecke der Kabine des Prinzen und sah nichts.
In den langen Tagen und Nächten, die darauf folgten, veränderte sich Dicks Zustand nur wenig, weder zum Guten noch zum Schlechten. Einen Tag und eine Nacht lang erholte er sich, und am nächsten versank er wieder in Fieber und Hustenanfällen. Seine echte Krankheit hatte die Furcht vor der Seekrankheit vertrieben, doch das beruhigte mich keineswegs. Mehr als einmal suchte ich Nessels Hilfe, um Dicks Fieberträume zu vertreiben, bevor sie die Mannschaft beunruhigen konnten. Seeleute sind ein abergläubisches Volk. Unter Dicks Einfluss teilten sie sich einen Albtraum, und wenn sie ihre Erinnerungen an die Nacht austauschten, kamen sie zu dem Schluss, das sei eine Warnung der Götter gewesen. Zwar passierte das nur einmal, doch fast wäre eine Meuterei die Folge gewesen.
Ich arbeitete enger und häufiger mit Nessel bei Gabenträumen zusammen, als ich wollte. Sie sprach nicht von Burrich, und ich fragte auch nicht nach ihm, doch ich wusste, dass wir beide die Tage seit seinem Aufbruch zählten. Auch wusste ich, dass sie es mir gesagt hätte, hätte sie etwas von ihm gehört. Durch seine Abwesenheit in ihrem Leben war ein Platz für mich freigeworden. Widerwillig fühlte ich, wie das Band zwischen uns immer stärker wurde, bis ich mir ihrer Gegenwart ständig bewusst war. Ohne es zu merken, lehrte sie mich, hinter Dicks Träume zu schlüpfen, sie zu manipulieren und sie vorsichtig in beruhigende Bilder zu verwandeln. Allerdings konnte ich das nicht so gut wie sie. Während ich ihm Vorschläge unterbreitete, rückte sie sie schlicht zurecht.
Zweimal fühlte ich, dass Chade uns beobachtete. Das nagte an mir, doch ich konnte nichts dagegen tun, denn hätte ich seine Präsenz anerkannt, hätte auch Nessel ihn bemerkt. Doch indem ich ihn ignorierte, profitierte ich auch davon, denn er wurde kühner, und ich sah, wie mein alter Mentor immer stärker in der Gabe wurde. Merkte er das nicht, oder versuchte er, seine Fortschritte zu verbergen?
Seereisen haben mich noch nie gefesselt. Das Meer sieht überall gleich aus. Nach ein paar Tagen kam mir die großzügige Kabine des Prinzen genauso eng und stickig vor wie der Laderaum, den sich die anderen Gardisten teilten. Das eintönige Essen, das ständige Schaukeln und meine unablässige Sorge um Dick quälten mich mehr und mehr. Gleichzeitig machte unsere kleiner gewordene Kordiale kaum noch
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