Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 04 - Der wahre Drache
Kettenfaden, um den herum die Welt gewoben ist, und ohne sie würde alles in sich zusammenfallen. Trotzdem hatte ich sie den Großteil meines Lebens über ignoriert und höchstens ein flüchtiges Interesse am grünen Schattenleben der ältesten Bäume gezeigt. Doch jenseits von alledem strömte noch ein viel nebulöseres Leben vorbei.
Es war der Tod.
Der Tod, die Knoten in dem uns verbindenden Netz, war gar nicht der Tod. In dieser sich zuziehenden Schlinge wurde das Leben neu geformt und nicht zerstört. Im Leib des Narren wimmelte es förmlich vor Leben. Es war der siedende Kessel des Lebens, der zur Wiedergeburt hochkochte. Jedes Element, das seinen Leib zu einem Lebewesen machte, war noch immer da. Die Frage war nur, ob ich ihn davon überzeugen konnte, wieder seine alte Anordnung anzunehmen, anstatt sich in die weit einfachere Form zu verwandeln, auf die er nun zustrebte.
Atemlos, sprachlos, bewusstlos gab ich mich ihm hin. Auf seine eigene Art war er wie ein Gabenstrom, denn er zog und zerrte an den Fäden, die den Leib des Narren zusammenhielten, und löste Stücke aus ihm heraus, die woanders gebraucht wurden. Diese geordnete Auflösung faszinierte mich. Ich hatte das Gefühl, einem guten Steinspiel zuzuschauen. Die einzelnen Stücke bewegten sich nach einem Muster. Ich versuchte, eines in seine alte Position zu bringen, doch es floss von mir weg, um sich wieder zu den anderen zu gesellen.
Das ist wieder das alte Spiel. Doch du willst es noch immer nicht sehen. Sie sind keine einzelnen Jäger; sondern ein Rudel. Du darfst deinen Willen nicht gegen das Einzelne stellen. Dazu sind es zu viele. Du kannst sie nicht aufhalten. Deshalb musst du sie treiben. Benutze sie. Tu an den alten Platz, was sie neu gemacht haben.
Das war die Weisheit eines Wolfs. Wie der Schwarze Rolf mir gesagt hatte, dass es sein könnte, so war es auch. Nachtauge war bei mir, nicht wie er gewesen war, sondern wie
wir
gewesen waren. Es war seine Sicht der Dinge, die ich mir in jener Nacht zu Eigen machte - das simple Bewusstsein eines Wolfs, dass, wenn man Fleisch isst, man immer auch das Leben frisst. Das elegante Gleichgewicht zwischen Räuber und Gejagtem galt hier ebenso wie damals, als wir gemeinsam gejagt hatten. Der Tod füttert das Leben. Was der Körper auseinander nimmt, fügt er auch wieder zusammen.
Das war keine Gabenheilung. Das war eine geleitete Veränderung, ein Treiben der Einzelteile in die Anordnung, an die ich mich erinnerte. Ich bezweifele, dass ich in meinen Bemühungen so geschickt war wie Burrich. Wieder und wieder kehrten sich die Ströme, die ich umgelenkt hatte, wieder um und müssten erneut davon überzeugt werden, aufzubauen statt abzureißen. Auch war der Narr nicht vollkommen menschlich. In dieser Nacht stellte ich mich zum ersten Mal gänzlich seiner Fremdartigkeit. Ich hatte geglaubt, ihn zu kennen, doch in diesen Stunden des Wiederaufbaus erkannte und akzeptierte ich ihn zum ersten Mal, wie er war. Das an sich war schon eine Erleuchtung. Ich hatte stets geglaubt, wir hätten mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Doch das war schlicht nicht wahr. Er war nur so weit ein Mensch, wie ich ein Wolf war.
Ich fuhr mit meiner Arbeit auch noch fort, als ich das Blut durch seine Adern strömen spürte und wieder Luft in seine Lunge pumpen konnte. Ein Teil seines Körpers war während der Wiederherstellung auch repariert worden. So waren zwei seiner Rippen gebrochen gewesen. Diese Knochen hatten sich nun geheilt. Schier unglaublich feine Fäden schlossen die schlimmsten Wunden auf seiner Haut. Was jedoch jene Stellen betraf, wo Fleisch und Knochen fehlten, konnte ich nur wenig tun. Vorsichtig weckte ich seine eigenen Heilkräfte wieder zum Leben. Ich wagte nicht, viel weiter zu gehen. Er hatte die Reserven seines Körpers bereits aufgebraucht. Ich schloss das rohe Fleisch auf seinem Rücken gegen den schmerzhaften Kuss der Luft. Dann fügte ich die gespaltene Zunge wieder zusammen. Zwei seiner Zähne fehlten; dagegen konnte ich nichts tun. Als ich wusste, dass ich alles für seinen Körper getan hatte, was ich tun konnte, sog ich noch einen tiefen Atemzug in seine Lunge und öffnete seine Augen.
Die Nacht wich dem Morgengrauen. Die schwächeren Sterne hatten sich bereits dem kommenden Tageslicht ergeben. Ein Vogel sang, und ein anderer forderte ihn heraus. Ein Insekt summte an meinem Ohr vorbei. Meines Körpers wurde ich mir langsamer bewusst. Das Blut pulsierte in meinen Adern, und ich spürte die Luft in
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