Die Abaddon-Mission (German Edition)
war schließlich ein Held, auch wenn er ihn eigen t lich kaum gekannt hatte. Als Pa gefallen war, war er ga n ze drei Jahre alt gewesen. Heute erinnerte er sich nur noch an eine glänzende Uniform und einen fremda r tigen Geruch nach Öl und Metall. Und an ein flücht i ges Lächeln, das ganz nahe war, wenn Pa ihn ohne Anstrengung hochhob, wie einen Ball hoch in die Luft warf und s i cher wieder auffing.
Doch das war lange her, und allmählich verblaßte die Erinn e rung.
Natürlich war Tom stolz auf seinen Vater, der als Oberst der N a tionalgarde bei einer Luftlandeoperat i on gefallen war. Doch wenn er seine Mutter nebenan weinen hörte, wünschte er sich manchmal, daß Pa vielleicht besser kein Held hätte sein sollen – dafür aber am L e ben und bei ihnen...
Ohrenbetäubender Lärm schlug Tom entgegen, als er die Tür öffnete, und auf der Videowand tobte e r wartungsgemäß Sandras Lie b lingsband über die Bühne. Tom ging leise zurück in den Flur, löste den Sich e rungsautomaten aus und g e noß die Stille.
Doch die erwartete Schimpfkanonade blieb aus.
Erstaunt sah Tom zu seiner Schwester hinüber und registrierte b e troffen, daß sie weinte.
Wenn Sandra weinte, fühlte sich Tom hilflos.
Sie war doch seine große Schwester, verdammt noch mal! Dann sollte sie sich auch so benehmen. Sollte ihm überlegen sein, damit er sich nicht so sch ä big vorkam wie jetzt.
Tom fror plötzlich.
Ihm war klar geworden, daß Sandra nicht wegen ihrer albernen Musik weinte.
Es mußte etwas mit dem Ratsmemo zu tun haben, das sie gestern bekommen hatte. Der BÖS (Beau f tragter für öffentliche Sicherheit) hatte sehr wichtig getan, als er sich den Erhalt bestätigen ließ. Sa n d ra war mit der versiegelten Kassette nach oben in ihr Zimmer g e ga n gen und hatte sich den ganzen Abend über nicht wieder sehen lassen.
Wenn er nur wüßte, was der Rat von Sandra g e wollt hatte...
Wahrscheinlich hing es mit der Untersuchung z u sammen, zu der man sie – wie alle Mädchen der zehnten Klasse – vor zwei Wochen in die Bezirk s stadt geflogen hatte. Tom erinnerte sich an die u n gewohnte Zärtlichkeit, mit der Ma Sandra auf dem Hubschrauberla n deplatz verabschiedet hatte. Und auf dem Rückweg hatten sich ihre Lippen stumm b e wegt, als würde sie beten.
Das hatte Tom mehr Angst eingeflößt, als wenn sie geweint hätte. Auch deshalb waren seine Fragen unausgesprochen geblieben, z u mal es sich bei dieser Untersuchung – die aus unerfindlichen Grü n den auch als »G3« bezeichnet wurde – um eines jener dunklen Geheimnisse handelte, die männliche W e sen nichts a n gingen.
Tom nahm sich vor, Karen bei Gelegenheit d a nach zu fragen. Er war sich allerdings nicht sicher, ob er den Mut dazu aufbringen wü r de.
Tom liebte Karen.
Er liebte sie mit der ganzen Hingabe eines vie r zehnjährigen Jungen, der dieses seltsame, schwin d lig m a chende Gefühl zum ersten Mal erlebte. Wenn man ihn gefragt hätte, was denn an Karen so auße r gewöhnlich war, wäre er um eine Antwort verlegen gewesen. War es ihr Gang, ihr Lächeln oder die Art, wie sie sprach? Tom wußte es nicht. Er liebte Karen, und damit basta.
Es machte ihm nichts aus, am Nachmittag unter den mißtrauischen Augen des BÖS stundenlang Runden um ihren Block zu drehen. In der meist ve r geblichen Hoffnung, daß sie noch einmal herunte r käme und sie sich rein zufällig begegn e ten.
Es machte ihm auch nichts aus, daß ihn seine Freunde gnadenlos aufzogen, wenn er nach der Sch u le auf sie wartete, obwohl er gar nicht wußte, wie lange sie Unterricht hatte und ob sie nicht längst schon zu Hause war.
Tom brauchte nicht viel mehr als einen Blick von Karen, ein L ä cheln oder ein flüchtiges Winken, um sich in seiner schüchternen Liebe bestätigt zu fühlen. Wenn sie miteinander sprachen – was se l ten genug vorkam –, dann ging es stets um belanglose Dinge, die nichts mit ihrer flüchtigen, zerbrechlichen B e ziehung zu tun ha t ten.
Karen würde sicherlich mehr über diese g e hei m nisvolle G3-Untersuchung wissen. Schlie ß lich war sie ein Mädchen...
Verlegen zog sich Tom in den Flur zurück und scha l tete den Strom wieder ein. Als er nach der Fernb e dienung griff, schüttelte Sandra abwe h rend den Kopf:
»Laß gut sein, Thomas...« Ihre Stimme klang he i ser.
Tom fuhr zusammen.
Wenn Sandra ihn mit seinem richtigen Vornamen anredete, war etwas passiert. Etwas, das weit schlimmer war als ihr üblicher Li e besku m mer.
An Sandras
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