Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
ohne Artikel spricht, nehme ich doch an, dass es sich um denselben handelt, schließlich spielen unsere Geschichten in der gleichen Gegend; das heißt, wir haben es weder mit afrikanischem oder karibischem Voodoo-Zauber noch mit hinduistischer Vielheit, nicht mit Shintoismus oder Buddhismus zu tun – sondern mit Christentum.
Er heißt Gert Manger, und es war ihm peinlich, dass ihm der Gott vor der versammelten Kirchengemeinde mitten im Dom von St. Stephan in den Nacken geblasen hat. Nachdem ich auf unserem Nachtspaziergang durch den Prater versucht hatte, ihn davon zu überzeugen, dass ich nicht kompetent und nicht willens sei, ihn von seinen Sünden loszusprechen, und er in Trotz und Panik davongelaufen war, hatte er mich noch in derselben Nacht angerufen (ich habe ihm meine Nummer nicht gegeben, ich weiß nicht, woher er sie hat) und mich gebeten, am nächsten Morgen mit ihm zu frühstücken. Wir trafen uns im Café Landtmann neben dem Burgtheater, er kam in Jeans, Lodenjanker und Lodenmantel. Ich hatte seit zwei Tagen nichts gegessen und einen wenig vornehmen Appetit, ich gebe es zu, bestellte nacheinander ein Omelett mit allem, ein paar würzige Würstchen mit Senf, eine Portion Lachs mit Krenobers, ein Schwarzbrot mit Butter und Schnittlauch, eine Semmel mit Orangenmarmelade und eine mit Honig, Joghurt mit Früchten, dazu eine Kanne Tee und eine Kanne Kaffee und einen halben Liter Grapefruitsaft und zum Schluss ein kleines Stück Nusstorte und einen Espresso. Er trank nur einen großen Schwarzen, bestand aber darauf, mich einzuladen.
Wir fuhren in seinem Defender zum Lainzer Tiergarten hinaus, gingen an den brachen Wiesen entlang und in den Wald hinein, ließen die Hermes-Villa zur Linken und wanderten den Berg hinauf in Richtung Hubertuswarte. Knöcheltief lag das Herbstlaub auf dem Weg, Raben und Krähen gaben unter den Vögeln den Ton an, Hochnebel zog über die Baumwipfel, es war klamm, und wir waren die einzigen Spaziergänger. Als der Weg steiler wurde, bat er mich, langsamer zu gehen. Er trainiere zwar und habe eine zufriedenstellende Kondition, wolle mit seinem Puls aber nicht über 115.
Moralisch setze ihm am meisten zu, schloss er an unser nächtliches Gespräch an, dass er sich in sechs verschiedene Männer aufgespaltet sehe – in den Ehemann und Vater, dessen Last und Freude seine Frau und seine Tochter und deren ideelles und materielles Wohlergehen seien; in den Liebhaber, der seiner Geliebten Außergewöhnlichkeit in Form von nahezu täglichem, nahezu tödlichem Streit biete; in den Lover des Mannes, mit dem er seit zehn Jahren eine homosexuelle Beziehung unterhalte, dem Professor seines Lebens, der aus niederen Verhältnisse stamme, als Ingenieur in einer Werkzeugfabrik arbeite und mit dem er Gespräche führe, die sein Selbstbewusstsein stärkten. Dann sei er, viertens, der Tierarzt, dessen Ruf, da dürfe er sich nichts vormachen, der eines beflissenen, pedantischen und wenig phantasievollen Biedermannes sei. Fünftens sei er der Außenseiter in unserer Mittwochabendrunde im Gasthaus Wickerl in der Porzellangasse, dort, wie er hoffe, ein klein wenig geheimnisvoll, um diesen Eindruck bemühe er sich jedenfalls. Und, sechstens, begegne er seit seinem Erlebnis im Dom sich selbst als einem neuen, von den anderen Ichs gesonderten Individuum, dazu könne er allerdings nicht viel sagen. Ich solle mir aussuchen, wie ich ihn nennen wolle. Herr Manger oder Gert; ich dürfe mir aber auch gern einen neuen Namen für ihn ausdenken. »Einen Nickname.« Wie bei einer Selbsthilfegruppe im Internet. »Geben die Herrschaften im Wickerl ihren richtigen Namen an? Ist Joel Spazierer Ihr richtiger Name?« Sein Lover nenne ihn Nama-Nama. Am Beginn ihrer Beziehung seien sie gemeinsam für vierzehn Tage nach Namibia gefahren. Sie hätten ihren Bungalow nur verlassen, um Obst und Präservative einzukaufen. Das Gefühl, Ausgestoßene zu sein, habe ihn in eine Sphäre des Glücks gehoben, die er seither nie mehr erreicht habe. Gern wäre er nach diesen zwei Wochen gestorben. Seither vergehe keine Umarmung, bei der sie sich nicht vornähmen, gemeinsam abzuhauen, nach Namibia, und diesmal für immer. Ihr Gruß laute: ›Falls wir Schluss gemacht haben, kann ich mich nicht daran erinnern.‹ Er nenne ihn Nasitangala, das sei der Name eines klugen Hasen aus einem nigerianischen Märchen. Aber manches könne er mit ihm nicht besprechen. Zum Beispiel, dass Gott ihn erwischt habe. Er fühle sich seit jenem Sonntagmorgen im
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